Durchgetaktet sei das Leben mit Kind, haben sie gesagt. Das ist der vielleicht größte Quatsch, der je erzählt wurde. Seit ein Kind im Haus ist, weiß unser Kolumnist, was Chaos, Nervenkitzel und Abenteuer bedeuten.

Stuttgart - Es besteht der landläufige Glaube, es sei so eine Art gesetzte Bürgerpflicht, irgendwann Eltern zu werden. Als ob man erst mit Kind zum kompletten Menschen würde. Abgesehen davon, dass das freilich Quatsch ist, bringt es Menschen oftmals in die unangenehme Situation, sich Erklärungen einfallen lassen zu müssen, weshalb sie noch keine Kinder haben – oder noch schlimmer: dass sie überhaupt keine wollen.

 

Ich habe eine Theorie: Viele Eltern wollen nur, dass andere Leute auch Kinder bekommen, damit die ebenfalls zu wenig schlafen und in Socken auf Spielzeug treten. Als ob man eigens dafür Kinder bekommen müsste. Godzilla als neuer Nachbar oder der 3. Weltkrieg würden völlig ausreichen.

Als ob je etwas passen würde

Ich habe selbst mindestens einen Großteil meines Lebens damit verschleudert, mir Argumente zurecht zu biegen, weshalb ich keine Kinder haben möchte. „Passt gerade nicht“, war meine persönliche Lieblingserklärung.

Als ob denn je etwas passen würde. Mit Verlaub, ich bin Deutscher. Bei uns hier passt nie was. Wir differenzieren beim Nachbarn, gönnen dem nicht den Dreck unter den Fingernägeln und wir leben in ständiger Angst, irgendwas ändern zu müssen. Alles ist anstrengend. Da passt nun wirklich kein Kind mehr dazwischen. Lieber erst mal in den Urlaub fahren.

Orte an denen ich noch nie war: Iran, Chicago, Rüsselsheim und Partys, von denen Uwe Bogen hier immer schreibt. Natürlich sind es noch viel mehr Orte, diese hier sind mir eben nur spontan eingefallen. So wie ich früher auch spontan sagte: „Nee, so ein Kind ist nichts für mich. Ich könnte dann nicht mehr einfach so verreisen.“ Abenteuer, Nervenkitzel, Adrenalinkick und so weiter. Man möchte ja nicht, dass das Kind ohne Vater aufwachsen muss. „Nee, nee. Ne?“

Dann habe ich so getan, als würde ich einen Großteil meiner Freizeit in Gefahr verbringen. Es ist ja mitunter unser Luxus, dort Abenteuer-Urlaub zu machen, wo andere um ihr Leben fürchten.

Gefahr!

Ehrlich gesagt ist mir das damals gar nicht spontan eingefallen, ich habe das sinngemäß von Roger Willemsen und Henry Rollins geklaut. Die haben das unabhängig voneinander gesagt und ich habe es mir ausgeliehen. Im Gegensatz zu mir waren Willemsen und Rollins auch regelmäßig an allerlei merkwürdigen Orten – gefährlichen Orten, Orten, an denen ich nicht tot über dem Zaun hängen möchte, die Möglichkeiten dazu aber durchaus hervorragend wären. In Afghanistan, mit den Taliban quatschen, Truppen besuchen im Irak, Pakistan angucken und so Zeug. Ich hingegen war bis heute nicht an nennenswert gefährlichen Orten.

In Tel Aviv erkundigte ich mich mal bei einem Mann neben mir an der Bushaltestelle, ob der Bus hier immer so viel Verspätung hat oder ob ich den eventuell verpasst hätte. Er sagte: „Nee, ist wahrscheinlich in die Luft gesprengt worden“.

Weil ich sehr große Augen und etwas Atemnot bekam, sagte er: „Hihi, war nur ein Ulk.“ Das reicht mir an Abenteuer. Genau wie diese israelischen Supermärkte mit Metalldetektoren und Türstehern, die lustig fragen, ob man eine Bombe mit sich führe.

Bei Charles Manson zu Hause

In den USA habe ich mal in die Pistole eines Polizisten reingeguckt, weil ich bei der Verkehrskontrolle vom Motorrad abgestiegen bin und auf den Beamten zulief. Als ob es nicht schon dumm genug gewesen wäre, überhaupt als Beifahrer auf ein Motorrad zu steigen.

Und ich war morgens um 4 Uhr in Seattle bei einem Typen zu Hause, dessen Mitbewohner wie Charles Manson aussah, auf dem Fußboden Schrauben nach Größe sortierte, in Alkohol eingelegte tote Kleintiere in Einmachgläsern für schickes Interieur hielt und Heroin anbot.

Nett hier!

In einem mittelgroßen Dorf bei Cottbus befürchtete ich vor Jahren mal, von den Eingeborenen gelyncht zu werden und in einem Dorf bei Chemnitz bekam ich mal Verstärkung, damit man mich nicht lyncht. Und in Heilbronn wollte mich einer erstechen, weil ich ein Scheißausländer sei. Wenn ich eines gelernt habe: Gefährlich wird’s immer, wenn man eh nicht damit rechnet. Morgens die Augen öffnen und das Abenteuer beginnt. Der Rest ergibt sich.

So geht Action!

Seit fast 15 Monaten Jahr bin ich nun Vater. Völlig durchgetaktet sei das Leben mit einem Kind, haben sie gesagt, und vielleicht ist es der größte Blödsinn, der je erzählt wurde. Denn Chaos, Nervenkitzel, Spaß und Liebe lassen sich nicht takten. Das macht sie ja so interessant.

„Lebe wild und gefährlich“, flüstere ich dem Kleinen zu und rufe gleich hinterher „Acchhttunnggg! Orrr! Festhalten! Nicht hinfallen.“ Dabei sein zu dürfen, ist mir die größte Ehre und der wuchtigste Adrenalinkick. Und egal wie der Plan früher mal aussah, der kann mich mal. Dieser Plan hier ist das pure Leben.

Merkwürdig ist nur eines: Wenn man ein Kind hat, wird man plötzlich gefragt, wann denn bitteschön das zweite käme. Das mit den dämlichen Fragen hört wohl nie auf.

Lesen Sie mehr aus der „Kindskopf“-Kolumne

Michael Setzer ist vor gut einem Jahr Vater geworden. Früher haben Eltern ihre Kinder vor Leuten wie ihm gewarnt. Niemand hat ihn vor Kindern gewarnt. Er schreibt im wöchentlichen Wechsel mit seiner Kollegin Lisa Welzhofer, die sich in ihrer Kolumne „Mensch, Mutter“ regelmäßig Gedanken übers Elternsein, über Kinder, Kessel und mehr macht.