Eltern haftet im Sozialverhalten oftmals eine ärgerlich besserwisserische Aura an. Man möge ihnen bitte verzeihen, sagt unser Kolumnist Michael Setzer – und erklärt bei der Gelegenheit gleich mal, was eine „Biubiu“ ist.

Stuttgart - Irgendwann stumpft jeder ab. Da fährt man dann mit der U6 die Weinsteige hinauf, ohne einmal aus dem Fenster zu schauen. Man weiß ja mittlerweile, was da draußen ist. Der Ausblick ist, nagut, ein Ausblick auf die Stadt da unten im Loch – so viele Menschen, dass sogar die Ränder des Loches mit Häusern bepflanzt wurden. Manchmal schaue ich tatsächlich noch raus und denke an Freunde, die da unten wohnen, vielleicht gerade aufstehen oder irrwitzig betrunken nach Hause kommen.

 

Manchmal denke ich auch an Leute, die ich unbedingt mal wieder anrufen möchte, weil ich sie nur noch sehe, wenn ich dann doch mal aus dem Stadtbahnfenster sehe. Meistens schaue ich aber aufs Smartphone, das eigentlich ja ein Telefon ist – aber anrufen tu‘ ich viel zu selten. Man will ja nicht stören.

Wenn gar nichts langweilig ist

Einem Kind passiert so was nicht. Kinder interessieren sich – annähernd für alles und andauernd. Es ist alles irgendwie Wahnsinn da draußen und drinnen. Kinder machen schließlich fast alles zum ersten Mal. Und wenn sie es nicht zum ersten Mal machen, dann haben sie es zumindest noch nicht so oft getan, dass sie „laaaannnggweilig!“ sagen würden.

Wahnsinn zum Beispiel, dass die runden Bauklötze bei uns zu Hause exakt so groß sind, dass sie in die Löcher von Leitz-Ordnern passen. Die Löcher in diesen Ordnern wurden wiederum eigens dafür angebracht, dass man später die Ordner besser aus dem Regal ziehen kann, wenn der Bauklotz wieder ins Loch reingefallen ist. Klong. Klotz weg. Ohne Kind und Bauklotz wäre ich mir dieser Kausalität nie bewusst geworden.

An. Aus. An. Aus – die „Biubiu“, das Wunderding

Plötzlich erklärt sich die ganze Welt. Er zeigt auf irgendwas und sagt „Mh?“ und ich erkläre: Wauwau, Miau, Maus, Türe, Schublade, Schranktür, Vorhang, Handfeuerwaffe und „Biubiu“. „Ja, das ist eine Biubiu“, sage ich. Weil er Biubiu sagt. Da will man ja nicht der Stinkstiefel sein, der „DAS HEISST ABER GLÜHBIRNE!“ sagt.

Ich sage: „Die Biubiu leuchtet, wenn man auf den Schalter da hinten drückt.“ Dann gehen wir zum Lichtschalter, das Kind darf drücken und Zack leuchtet die Biubiu an der Decke. Sagenhaft. Für ihn ist die Geschichte da aber längst nicht abgeschlossen: an, aus, an, aus, an, aus.

Ich befürchte, dass gleich fremde Leute vorbeikommen, Getränke bestellen und zu tanzen anfangen – so disco ist das Biubiu-Geflacker bei uns zu Hause. Ehrenwort! Sollte ich jemals einen Club eröffnen: Der Schuppen wird Biubiu heißen. Im VIP-Bereich gibt’s Brei, Bauklötze und Lichtschalter.

Auf. Zu. Auf. Klong. Aua. Zu.

Dann geht’s schon weiter. Da wartet schließlich viel Welt darauf, erklärt und erschlossen zu werden. Der Junge zeigt im Sekundentakt in alle Windrichtungen, sagt „Mh?“ und guckt dann erwartungsvoll.

Manchmal muss ich improvisieren, weil ich nicht sicher bin, ob die Pflanze am Fenster Aloe Vera oder Bernd heißt oder ob sie vielleicht aus Plastik ist und gar nicht gegossen, sondern abgestaubt werden muss. Ich sag: „Pflanzendings“. Und während ich meinen genialen Geistesblitz vergolden möchte, ist der Kleine längst weiter im Programm.

Wir öffnen jetzt für den Rest seines Abends die Türe an der Kommode, nicht weil das sinnvoll wäre, sondern einfach nur, weil das möglich ist. Wie gut ist das denn, bitte?! Auf. Zu. Auf. Zu. Auf. Zu. Auf. Klong. Er haut mir die Türe gegen den Kopf, lacht. Und weiter geht’s: Auf. Zu. Auf. Zu. Klong. Aua. Zu. Auf.

Ich erkläre derweil, dass das eine Türe ist, aber eben anders als die Türen, durch die wir in andere Räume krabbeln. So viel Präzision und Sorgfalt muss bei der Erklärerei sein. Klong. Gegen die Stirn.

Natural Born Erklärbär

Vielleicht haftet Eltern gelegentlich diese nervtötend besserwisserische Aura an, weil sie den ganzen Tag mit Erklären beschäftigt sind. Im Eifer des Gefechts vergisst man leicht, dass nicht alle Menschen auf Erklärungen warten – oder ausgerechnet mich fragen würden, wenn sie mal eine bräuchten.

Gerade als Mann ist das schwierig. Wir glauben immer, man hätte uns um unsere ehrliche Einschätzung gebeten. Dann erklären wir die Welt und belehren jeden, der bei Drei nicht weggelaufen ist. Da wird man schnell zu einer Art Zauberer, der es schafft, selbst Leuten auf den Sack zu gehen, die gar keinen haben.

Ich hoffe jetzt erst mal, dass das Kind nie fragt, was Buabaspitzle sind, und weshalb wir die in die Pfanne werfen und dann essen. „Och, frag’ deine Mutter“, werde ich dann sagen. Oder „SCHUPFNUDELN!“.

Lesen Sie hier mehr aus der „Kindskopf“-Kolumne

Michael Setzer ist vor einem Jahr Vater geworden. Früher haben Eltern ihre Kinder vor Leuten wie ihm gewarnt. Niemand hat ihn vor Kindern gewarnt. Er schreibt im wöchentlichen Wechsel mit seiner Kollegin Lisa Welzhofer, die sich in ihrer Kolumne „Mensch, Mutter“ regelmäßig Gedanken übers Elternsein, über Kinder, Kessel und mehr macht.