Viele Kinder sind viel beschäftigte Wissenschaftler und wahnsinnig clever. Sie lassen das bloß nicht so protzig raushängen wie ihre Eltern. Sogar unser Kolumnist Michael Setzer war früher mal Raketenphysiker. Also, fast.

Stuttgart - Ich habe kaum Ahnung, dafür umso mehr gefährliches Halbwissen und Lust auf mehr – und manchmal belausche ich eben fremde Eltern in der Hoffnung, sie würden irgendwas wissen. Diese Frau im Supermarkt zum Beispiel. Sie wirkte derart gestresst, dass man fast „busy“ sagen müsste, doch sie war zumindest willens genug, sich Zeit zu nehmen: „Warum essen wir das nicht?“, fragte sie ihren Sohn in dieser Tonlage, in der man schnell ahnt: Es gibt nur eine richtige Antwort.

 

„Junge! Vorsicht, was Du sagst“, wollte ich ihn warnen. Hab’s aber gelassen, weil’s mich erstens nix angeht und zweitens: der war so jung, dass er eventuell auch eine Tochter hätte sein können. Lediglich laut und deutlich zu vernehmen war: das Kind wollte Nutella. Zum Leidwesen der Mutter. Sie fragte noch einmal: „Warum essen wir das nicht?“

Eltern sagen inflationär oft den Namen des eigenen Kindes

„Weiß nich‘ mehr“, sagte das Kind und dann war auch die Gendersache geklärt, weil Eltern inflationär oft den Namen des eigenen Kindes sagen: „Wir essen kein Nutella wegen dem Palmöl und Nestlé, Jonas.“ Jonas war – wie vermutet – tatsächlich ein Junge und offensichtlich schon vor geraumer Zeit darüber in Kenntnis gesetzt worden, dass Ferrero aufgekauft wurde, Nestlé ein skrupelloser Verein und Palmöl irgendwie nicht gut ist.

Als sonderlich humorvoll oder schnippisch erwies sich Jonas im Gegenzug leider nicht. Sonst hätte er zu seiner Mutter gesagt: „Mutter! Das heißt übrigens wegen des Palmöles!“ Trotzdem: Starker Typ, der Jonas.

Klebrig, süß – super

Meine Mutter kürzte die Nutella-Debatte damals gekonnt ab: „Das Markenzeug ist unnötig. Das da tut’s auch“, dann packte sie Nutoka, Nusspli oder wie die anderen Produkte heißen, in den Wagen. Die waren ebenfalls klebrig, viel zu süß und deshalb ziemlich super.

Mit Coca Cola wurde bei uns zu Hause ähnlich verfahren. Gibt’s nicht. Und sie hatte prinzipiell natürlich Recht und sicherlich auch die Argumente. Meine Mutter kürzte ihre Argumentation lediglich ab, damit mir genügend Zeit für andere wichtige empirische Studien blieb. Ich hatte viel zu tun damals.

Kinder sind Wissenschaftler

Denn wie jedes anständige Kind, betätigte ich mich bereits in weitreichenden Forschungsgebieten, mit denen ich bestens ausgelastet war. Wachsen oder beispielsweise die Frage, ab wann Pausenbrote im Ranzen zu reden anfangen, ob feuchte Stinkesocken den Geruch ändern, wenn sie in Gummistiefeln aufbewahrt werden oder wie man beim Luftanhalten unter Wasser schummeln könnte. Ich alleine habe sogar einst den Sänger Elvis Costello als Schwindler enttarnt: „Mama, das ist gar nicht Elvis!!“ Für den internationalen Marken-Kapitalismus, Shareholder oder Lebensmittelherstellung haben Kinder da gewöhnlich kaum Kapazitäten frei.

Und „Zack“: kleinkriminell

Und wir waren trotzdem manchmal bei McDonald’s. War super. „Nutellagate“ war gleichzeitig auch das erste Mal, dass ich gemäßigt kleinkriminell wurde. Wenn ich irgendwo zu Gast war, wo Nutella angeboten wurde, hab ich das Zeug daumendick aufs Brot gewuchtet oder mir Coca Cola reingeballert, bis mir fast schwindelig wurde.

Meine Mutter hätte mich noch im Nachbarort rülpsen hören können – ja, wenn ich nicht so schlau gewesen wäre. Ich habe nach akribischen Studien und Feldversuchen beim Rülpsen immer meine Stimme verstellt. Bin ja kein Doofie.

Und sie wusste es trotzdem. Weil Eltern immer ein bisschen schlauer sind als ihre Kinder. Die schlauen Eltern erkennt man aber eventuell auch daran, dass sie das den Kindern nicht ständig unter die Nase reiben.

Achtung: Für die Eltern von Säuglingen gelten eigene Gesetze. Solche Eltern sind übernächtigt und naturgemäß wirr im Kopf. Da zerbricht man sich über Dinge den Kopf, die erst in Jahren passieren werden. Unser Sohn ist gerade mal sieben Monate alt. Nutella ist dem vollkommen egal. Und außerdem wurden Teile von Nestlé 2018 von Ferrero übernommen.

Michael Setzer ist vor Kurzem Vater geworden. Früher haben Eltern ihre Kinder vor Leuten wie ihm gewarnt. Niemand hat ihn vor Kindern gewarnt.