Ein Amazonas-Schamane zeigt weißen Forschern die Reste seiner alten Welt. Das wird zum ergreifenden Abgesang auf die Indianer und zur Konfrontation mit Völkermord und Sklaverei.
Stuttgart - Wer esoterischen Schnickschnack über geheimes Wissen der Naturvölker sucht, das aller irrenden Wissenschaftlichkeit überlegen ist, der ist hier falsch. Der kolumbianische Spielfilm „Der Schamane und die Schlange“, der im Rennen um den Oscar für den besten ausländischen Film stand, erzählt zwar von einem Naturgelehrten der Amazonas-Indianer und von weißen Forschern, die dessen Wissen anzapfen möchten. Aber mit den üblichen neo-abergläubischen Wunderkur-Dokumentationen hat das nichts zu tun. Eine viel kompliziertere Geschichte wird hier viel kunstvoller erzählt.
Die Linie sei unterbrochen, sagt der Indio-Schamane Karamakate einmal, als er vor Felszeichnungen steht. Aber er meint keinen einzelnen Strich auf der Zeichnung, er meint die Traditionslinie seines Volkes und die Einheit der eignen Biografie. Sein Stamm ist wie viele andere ausgelöscht, dessen Denken und Wissen ist nicht mehr rekonstruierbar. Die Sprache ist verhallt. Er selbst ist nicht einmal mehr ein zuverlässiger letzter Zeuge und Bewahrer, denn er wird vergesslich, vielleicht senil. Als ihn ein junger weißer Forscher darum bittet, eine legendäre Heilpflanze zu suchen, muss Karamakate bald weinen. Er kann sich nicht einmal mehr an einfachere Rezepte und Rituale erinnern.
Zorn und Misstrauen
Die Reise, zu der er dann trotzdem aufbricht, ist aber nur eine von zwei Expeditionen, die der Filme schildert. Verwoben mit der aktuellen Unternehmung wird eine, die Karamakate vierzig Jahre zuvor unternommen hat. Auch da sollte er einen siechen weißen Gelehrten und dessen Indio-Gefährten in den Dschungel zur Heilpflanze führen.
Auf die erste Reise bricht Karamakate bereits zornig und misstrauisch auf, überzeugt, der einsame Vergessene eines großen Völkermordes zu sein. Der kranke Neuankömmling (Jan Bijvoet) aber tröstet ihn, es gebe durchaus noch weitere Überlebende seines Volkes, die man finden werde.
Auch auf der zweiten Reise wird man Indios begegnen, aber die Hoffnung auf ein Intakthalten der Kultur ist nun endgültig zerschlagen, ebenso wie die Utopie, es könne eine Zeit der Bürger- und Menschenrechte für die Indios in den ihnen aufgezwungenen staatlichen Gemeinwesen folgen.
Bezüge zu „Apocalypse Now“
Was die markanten, von dosierten fantastischen Elementen durchsetzten Schwarz-Weiß-Bilder schildern, knüpft sich in die Tradition der Expeditionen ins Herz der Finsternis. Wie in Joseph Conrads Novelle von 1899, die den Begriff prägte, oder in Francis Ford Coppolas genial freier, in den Vietnamkrieg verlegter Adaption „Apocalypse Now“ von 1979 findet sich tief in der Wildnis der verrückt gewordene Weiße, der die Ureinwohner mit einem Wahnsystem knechtet, mit einer grausigen Karikatur beider Kulturen.
Etliche Kritiker haben Ciro Guerras „Der Schamane und die Schlange“ mit „The Revenant“ verglichen, was wegen des erbarmungslosen Blicks auf Völkermord und Landraub auch Sinn ergibt. Aber die Unterschiede sind prägender als die Übereinstimmungen. Alejandro G. Iñárritus „The Revenant“ nimmt die weiße Heldenerzählung vom Trapper, der sich gegen Wildnis und Wilde durchsetzen muss, noch in ihren dreistesten Momenten beim Wort und bringt so Monster auf die Leinwand: im Mittelpunkt stehen weiße Scheusale. Im Zentrum von „Der Schamane und die Schlange“ steht die Würde der historischen Verlierer.
Nackte Würde
Beide Darsteller, der des jungen wie der des alten Karamakate, Nilbio Torrres wie Antonio Bolivar, zeigen enorme Präsenz und heben mit unverkrampftem Ernst auch vertrautere Szenen fort aus dem Genrehaften ins Originelle und Dringliche. Vor allem Bolivar steht, fast nackt, nur mit einem Lendenschürzchen, einer Kette und Armbändern bekleidet, mit der gelassenen Autorität eines großen Staatsmanns vor der Kamera. In jedem Moment scheint er sich bewusst, dass er nicht für sich alleine vor unsere Augen tritt, sondern stellvertretend für all jene, deren Lieder, wie der Abspann sagt, man nie mehr hören wird.
Der Schamane und die Schlange. Kolumbien, Venezuela, Argentinien 2015. Regie: Ciro Guerra. Mit Antonio Bolivar, Nilbio Torres. 124 Minuten. Ab 12 Jahren.