Casey Affleck spielt schmerzhaft intensiv einen Mann, der von Trauer und Selbsthass zerfressen wird, aber die Verantwortung für seinen Neffen übernehmen muss. Der Golden Globe für Hauptdarsteller ging also an den Richtigen.

Stuttgart - Manchmal kann man nicht viel dafür, wenn das Leben einen auffrisst. Man blinzelt kurz, und schon ist nicht viel mehr übrig als ein desolates Identitätsgerippe. Auch Lee Chandler, ein von Trauer und Selbsthass zerfressener Einzelgänger, zerbricht an einer Vergangenheit, die sorgsam konserviert im Mikrokosmos seines Heimatdorfs auf ihn wartet. Nach einer privaten Katastrophe hat er lange im Nebel des konsequent Verdrängtem vor sich hin vegetiert, nun zwingt ihn der Tod seines Bruders zurück in die hell ausgeleuchtete Manege seines Versagens. Dort, im kühlen Küstenörtchen Manchester, wartet nicht nur sein traumatisierter Neffe, für den er von jetzt an die Verantwortung trägt. Hier greifen auch die Blicke all jener nach dem unfreiwilligen Heimkehrer, die bis heute nicht vergessen haben, wie tief er einst gefallen ist.

 

Auf dem Papier gleicht das Familiendrama „Manchester by the Sea“ mit seiner vermeintlich melancholischen Heilsgeschichte einem Baukasten voll jener Legosteine, die einem Drehbuchautor routinemäßig in die Hände fallen: Der vereinsamte Zyniker; der jugendliche Schützling; dessen unkonventioneller Charme; das Zurückholen des Mentors ins Leben, obwohl der nie darum gebeten hat. Einen Moment lang möchte man die Augen verdrehen und genervt zur Decke schauen: Danke, wir können Schluss machen, von hier an weiß man, wie’s läuft.

Allein, man weiß überhaupt nichts. Denn „Manchester by the Sea“ verweigert sich konsequent der rührseligen Geschichte, die schon festgeschrieben zu sein scheint. Statt seinen Figuren irgendeine Art von Heilungsprozess zu gönnen, bohrt Regisseur Kenneth Lonergan den Finger unerbittlich ins Zentrum des kaum Erträglichen und schaut dann aufmerksam zu, wie Lee und sein Neffe Patrick ihren Kummer über den Tod des Vaters und Bruders in ihrem brüchigen Alltag langsam zerleben – stumm und fast schon unspektakulär.

Eine brutale Klarheit, die man selten zuvor gesehen hat

Dank dieses radikalen Sezierblicks wird die eigentlich vorhersehbare Trauergeschichte zum überraschend bewegenden Gegenkonzept zu bild- und soundgewaltigen Kassenschlagern wie Damien Chazelles Musical „La La Land“. Denn im Gegensatz zu den flimmernden Märchenszenarien verzichtet Lonergans existenzialistisches Drama auf alles Laute, Aufdringliche, Konstruierte und wird stattdessen zu einer stillen und trostlos beobachteten Nebenbei-Tragödie, die einem das Herz bricht. Das ist das Leben, wie es gelebt und nicht geschrieben wird – und gerade diese in makellose Bilder verpackte Unmittelbarkeit ist so zart und brachial inszeniert, dass ihre Kälte einem unter den Mantelkragen kriecht. Lonergan findet in der Aussparung und Reduktion, im Verzicht auf Kunstgriffe, eine brutale Klarheit, die man selten zuvor gesehen hat.

Schuld daran ist zum einen die beeindruckend zurückgenommene Szenografie, die ihre Figuren in weiten, offenen Sequenzen oft zu winzigen, fast schon verlorenen Punkten mutieren lässt. Mit seinen – erstaunlich wenig ausgelutschten – Rückblenden etabliert Lonergan außerdem einen fast schon schmerzhaft offensichtlichen Widerpart zu den Trümmerbergen der fiktiven Gegenwart. Denn die Menschen, die in den kurzen Vergangenheitsblasen auftauchen, sind weit weg von den Schattenfiguren, die man auf der Gegenwartsebene erlebt.

Viel subtile Komik und ein ungekünstelter Zugang zu Emotionen

Auch in dieser Gegenwart verzichtet „Manchester by the Sea“ auf staatstragende Trauerszenarien und schwarz gefärbte Gefühlsausbrüche. Bei allen Figuren mischt sich die Traurigkeit stattdessen mit der Panik vor dem eigenen Selbst – und das passiert mit viel subtiler Komik und einem befreiend ungekünstelten Zugang zu den tiefsten Emotionen, die sich oft in seltsamen Momenten offenbaren.

Dass all das so gut funktioniert, verdankt „Manchester by the Sea“ auch seiner grenzgenialen Besetzung: Lucas Hedges gibt als dauerpubertierender Halbwaise Patrick sein Debut und überrascht mit eindringlichen, erschreckend authentischen Verzweiflungsgesten. Daneben spielt Casey Affleck mit der Figur des Lee Chandler jemanden, der einmal am Leben war, es aber schon lange nicht mehr ist. Jemanden, der nur noch vor einer Vergangenheitsblende existiert und sich selbst nicht verzeiht. Kein Wunder, dass er dafür den Golden Globe als bester Hauptdarsteller bekommen hat. Affleck agiert mit so zurückgenommener, konzentrierter Intensität, dass man fast vergisst, dass die Welt um diesen unheilvollen Küstenort eigentlich nur eine Erfindung ist.