Am Schicksal eines Jungen zeigt der Regisseur Barry Jenkins prekäre Verhältnisse in den USA und wieso viele Afroamerikaner ihnen nicht entkommen. Das macht seinen Oscar-prämierten Spielfilm zu einem beeindruckenden Zeitdokument.

Miami - Wenn der einzige echte Freund, den ein Kind hat, der örtliche Drogendealer ist, dann sagt das alles über das Milieu, in dem dieses Kind aufwächst; wie komplex dort die Problemlagen sind, zeigt sich daran, dass die Mutter des Kindes drogenabhängig, also Kundin des Dealers ist. In solchen Verhältnissen wächst der Afroamerikaner Chiron auf. Der gewalttätige Vater hat die Familie längst verlassen, die alleinerziehende Mutter kommt wegen ihrer Sucht mit dem Geld nicht aus, Chiron wird in der Schule gemobbt und geschlagen. Als er älter wird, wagt er nicht, seine Homosexualität zu leben, um sich den chauvinistischen Drangsalierern nicht vollends auszuliefern.

 

In drei Episoden mit drei engagierten Darstellern zeigt der Regisseur Barry Jenkins das aufgeweckte Kind mit dem Spitznamen Little, den verstörten Jugendlichen Chiron und den desillusionierten Erwachsenen mit dem Kampfnamen Black. Jenkins erzählt von verschwendetem Potenzial und von einem Lebensweg in die Perspektivlosigkeit, der allzu vielen Afroamerikanern vorbestimmt zu sein scheint. Die Kamera macht er zum Brennglas, vor ihrem sengenden Blick hat keine Maskerade Bestand, keine Ausrede, keine Beschönigung. Jenkins zeigt ungeschminkt die Realität dessen, was in afroamerikanischen Vierteln ganz selbstverständlich als Normalität hingenommen wird. Weiße treten nicht auf, nicht einmal in Gestalt gewalttätiger Polizisten. Die schwarze Welt erscheint hier als eine in sich abgeschlossene, die keine Berührungspunkte hat zum sie umgebenden weißen Wohlstand, zum amerikanischen Traumversprechen. In diesem Teil Miamis gibt es kein subtropisches Schillern, sondern nur die austauschbare Tristesse weitläufig verbauter US-amerikanischer Unorte.

Wer ergreift im Ernstfall Partei für den Außenseiter?

In einer wunderbaren Szene fährt der Drogendealer Juan mit Little zum Strand, wo Unterschichtkinder nur selten hinkommen. Das weitgehend auf sich allein gestellte Kind ist natürlich Nichtschwimmer, doch Juan lockt es ins Wasser, macht es mit dem Element vertraut, hält es auf starken Armen – ein großer Moment für einen kleinen Kerl, dem es an männlichen Vorbildern mangelt und an väterlichem Schutz. Entsprechend erschüttert ist Little, als er begreift, mit wem er es da zu tun hat.

Mahershala Ali hat schon als Lobbyist in der Polit-Intrigen-Serie „House Of Cards“ geglänzt. Hier nun zeigt er in kleinsten Regungen sehr eindringlich den Zwiespalt des Drogendealers, in dem offensichtlich viel mehr steckt als ein gewöhnlicher Krimineller: Als Dämon bringt er es zu einer materiellen Ausstattung, die sonst kaum jemand hat im Viertel, doch er ist nicht immun gegen das Leid, das er mitverantwortet – und es schmerzt ihn, nicht gleichzeitig als rettender Engel alles wieder gutmachen zu können. Ali hat dafür verdientermaßen den Nebendarsteller-Oscar bekommen.

Der Dealer ist eine Projektion dessen, was viele Afroamerikaner maximal erreichen können, ganz nüchtern und unsentimental dargestellt, frei von Klischees. Er markiert den ersten großen Vertrauensbruch, den Chiron erleidet. Den zweiten erlebt er mit einem Mitschüler, und wieder spielt die Schlüsselszene am Strand, wo die beiden sich für einen Moment näherkommen. Derselbe Mitschüler freilich steckt auch in Gruppenzwängen, und wer ergreift im Ernstfall schon Partei für den Außenseiter, dessen Ächtung ansteckend sein kann? Da erwacht in Chiron der zornige junge Mann, der sich mit den falschen Mitteln wehrt – und noch weiter ins Abseits gerät.

Die Mutter wird zum bettelnden Wrack

Die dritte und größte Enttäuschung ist eine schleichende. Wirkt Chirons Mutter in der Kindheitsepisode noch einigermaßen aufgeräumt trotz ihrer ständigen Abwesenheit, ist der Teenager Chiron konfrontiert mit dem Verfall ihrer Persönlichkeit, mit einem um Geld bettelnden Wrack, das den Jugendlichen mit seiner Mutterliebe erpresst. Naomie Harris, ebenfalls für einen Oscar nominiert, vollzieht die Wandlung sehr konsequent. Sie hat keine Scheu, hässlich zu wirken als verzweifelte Abgestürzte mit wirrem Haar und weit aufgerissenen Augen. Die Tränen ihrer späten Reue sind mindestens so anrührend wie die Geste der Vergebung, die Chiron ihr schenkt – weil es gegenüber der eigenen Mutter gar keine Alternative gibt.

Natürlich zeigt dieser Film ein Elend und ist nicht immer leicht auszuhalten. Aber Jenkins heischt nicht um Mitleid, sondern bleibt unaufgeregt und präzise in seiner Bestandsaufnahme. Das macht den Film zu einem beeindruckenden Dokument der Zeitgeschichte, das dem US-Präsidenten wichtige Hinweise liefern könnte, wenn er es nicht vorziehen würde, sich seine Fakten selbst zu schaffen.

„Moonlight“ hat den Oscar für den besten Film bekommen, Barry Jenkins den fürs beste adaptierte Drehbuch. In seiner Dankesrede widmete er den Preis all jenen, „die sich unsichtbar fühlen“. Das sind sie nun nicht mehr, Jenkins macht sie sichtbar – so sehr, dass es manchmal schmerzt.