Der Kinoneustart „Atomic Blonde“ führt zurück ins geteilte Berlin kurz vor dem Mauerfall 1989. Charlize Theron als kühle, taffe Agentin legt sich mit Männern und Frauen an. Auch die härtesten Szenen sind virtuos inszeniert.
Stuttgart - Berlin im Spätherbst 1989. Nasskaltes Wetter, die Fassaden der Häuser sind schmutzig und grau. Wer hier durch die vom Wind durchfegten Straßen geht, egal, ob auf der Ost- oder der Westseite des überall gleich trostlosen Molochs, schlägt unwillkürlich den Mantelkragen hoch. Mieses Klima, im doppelten Sinn. Lorraine Broughton (Charlize Theron) ist eine, die das noch abkann, wenn sich ihre männlichen Kollegen längst zum Warmduschen verabschiedet haben. Kälte hilft gegen Schmerzen. Zuhause im Bad streift Lorraine ihre Klamotten ab und steigt in die Wanne. Eiswürfel treiben im Wasser, unter Lorraines gespannter Gänsehaut leuchten die dicken Prellungen an ihrem Körper purpurfarben. Verdammte Prügelei, gehört aber nun mal zum Job.
Mit seinem Action-Agenten-Thriller „Atomic Blonde“ verfilmt der amerikanische Schauspieler und Regisseur David Leitch die Graphic Novel „The Coldest City“ von Antony Johnston und Sam Hart. Deren hartgesottene, garantiert nicht kindgerechte Bildergeschichte spielt in den letzten, politisch unübersichtlichen Tagen vor dem Mauerfall. Das historische Setting dient in „Atomic Blonde“ vor allem als ästhetische Folie einer auf den ersten Blick stereotypen Spionage-Handlung. Wir erfahren, dass Broughton als MI6-Spionin in Berlin den von einem russischen Agenten verübten Mord an ihrem Kollegen Gascoine (Sam Hargrave) untersuchen soll. Der hatte vor seinem Tod eine Liste von einem Ostberliner Informanten mit den Klarnamen sämtlicher Agenten dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs erhalten. Das Papier wird jedoch nicht bei der Leiche gefunden. Gemeinsam mit dem Grenzgänger David Percival (hervorragend schmierig: James McAvoy) soll Lorraine die Liste wiederbeschaffen.
Keile für KGB-Agenten
Im Zuge dieser sehr tatkräftigen Ermittlung prügelt sich die von Charlize Theron ebenso hünenhaft wie glatt elegant verkörperte Heroine durch Horden kantiger KGB-Agenten und strammer Vopos, bis sie schließlich den Stasi-Überläufer Spyglass (Eddie Marsan) findet. Der hat die Liste auswendig gelernt und verlangt im Tausch dafür die geschützte Ausreise für sich und seine Familie. Um die Angelegenheit an der Oberfläche ein wenig komplizierter erscheinen zu lassen, führt Leitch noch einen undurchsichtigen CIA-Mann (John Goodman) und die französische Spionin Delphine (Sofia Boutella) ein, die Lorraines kühles Herz zumindest für die Dauer eines erotischen Intermezzos erwärmt.
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Die konventionelle Anlage könnte schnell langweilen, doch Leitch, der als Co-Regisseur den thematisch ähnlich vorhersehbaren Action-Reißer „John Wick“ mit Keanu Reeves drehte und aktuell „Deadpool 2“ inszeniert, nutzt das ästhetische Potenzial der nicht nur in Ost-Berlin scheußlichen achtziger Jahre und überhöht das Genrestück zum Kunststück – vollgestopft mit popkulturellen Anspielungen auf die Wendejahre.
Ikonen im Schummerlicht
Mit ihren endlos langen Beinen und den herb schönen, stets eingefrorenen Gesichtszügen erscheint Lorraine als perfekte Mischung der 80er-Ikonen Brigitte Nielsen und Debbie „Blondie“ Harry. Hinzu kommen Verweise auf die von Sharon Stone verkörperte Männermörderin aus Paul Verhoevens Erotik-Thriller „Basic Instinct“ (1992), von dem sich Leitch die schummerig bunte Neon-Ausleuchtung abgeschaut haben mag. Der Amazone Lorraine stellt Leitch mit Delphine ein anderes zeittypisches Frauenideal gegenüber. Sofia Boutella vereint mit hübsch aufgeworfener Schnute und spärlich bekleideter, zierlich muskulöser Figur Attribute von Isabelle Adjani und Jennifer Beals („Flashdance“, 1983). Es sind also die Frauen, die den Plot bestimmen und vorantreiben, das macht den Charme und die Eigenständigkeit des Films aus. Dass sich Männer gegenseitig verdreschen, ist im Kino nichts Neues, wenn aber eine Frau umso härter austeilt, als sie zuvor hat einstecken müssen, wird das zum diebischen Vergnügen.
Dabei ist die Gewalt, wie sie Leitch inszeniert, nicht immer leicht zu konsumieren. In manchen Momenten ist „Atomic Blonde“ sogar ein unglaublich brutaler Film. Eine Szene, in der ein KGB-Offizier ein paar DDR-Breakdancer zu Nenas Gassenhauer „99 Luftballons“ zusammenschlägt, illustriert schmerzhaft die Repressionspraxis und wirkt beinahe wie ein politisch gemeinter Kommentar zum Zynismus des Regimes. Auch wenn es Leitch in den diversen Kampfszenen vordringlich um virtuos choreografierte Bewegung und weniger um eine Botschaft geht, kann man „Atomic Blonde“ durchaus als frauenfreundlichen Film verstehen. Anders als in der Wirklichkeit verdankt sich der Mauerfall hier nämlich nicht dem Ungeschick alter Politprofis, sondern einer Frau mit Schlagkraft.
Atomic Blonde. USA 2017. Regie: David Leitch. Mit Charlize Theron, James McAvoy, Sofia Boutella, John Goodman, Til Schweiger. 115 Minuten. Ab 16 Jahren.