Wie läuft das eigentlich so in interkulturellen Patchwork-Familien? Auch nicht immer quietschvergnügt und rosig, wie der deutsche Kinoneustart „Drei Zinnen“ erzählt. Ein Junge wird hier den Grabenkämpfen seiner drei erwachsenen Bezugspersonen ausgesetzt. So ein Beziehungsgeflecht kann schön kompliziert sein.

Stuttgart - Und dann fliegt auf einmal überall Schnee durch die Luft. Schwere Flocken wirbeln um die steilen Bergrücken und vernebeln die Sicht, während hoch oben drohend die Silhouette der Drei Zinnen emporragt, einer der bekanntesten Gebirgszüge in den Dolomiten. Es ist ein Szenario gewaltiger Ausweglosigkeit, und irgendwo im Sturm, mitten im Nichts, irren zwei schwarze Punkte umher, die sich aus den Augen verloren haben. Mit der eindringlichen Beiläufigkeit solch symbolischer Bilder zelebriert das Drama „Drei Zinnen“ den Untergang einer Welt, die unaufhaltsam aus den Fugen gerät – so leise, als hätte Regisseur Jan Zabeil dabei nur am Rand gestanden und zufällig zugesehen, wie das Leben seiner Protagonisten Lea, Nico und Tristan langsam entgleist.

 

Dabei wirken die drei zunächst noch wie ein schillerndes Paradebeispiel für das Konzept der globalisierten Patchworkfamilie: Tristans leiblicher Vater ist Brite, seine Mutter Lea kommt aus Frankreich, ihren neuen Partner Nico hat sie in Deutschland kennengelernt. Inmitten dieser Konstellation wächst Tristan nicht nur dreisprachig auf, sondern auch in verschiedenen Ländern – je nachdem, bei welchem Elternteil er gerade seine Zeit verbringt.

Scheidungskinder in der Krise

Das interkulturelle Familienmodell bedeutet in seinem Kern zunächst einmal totale Freiheit – zumindest für die Erwachsenen. In seiner Selbstverständlichkeit repräsentiert es schließlich eine Welt, in der Fernbeziehungen über Kontinente hinweg kaum mehr ein Thema sind und die Frage, ob die Kindererziehung nach der Trennung der Eltern in Frankreich oder Großbritannien stattfindet, mit einem zuversichtlichen Sowohl-als-auch beantwortet wird. So schön das klingt mit der neuen, grenzenlosen Wirklichkeit: In Tristans Fall bekommen altbekannte Herausforderungen eine ganz neue Brisanz.

Denn der uralte Loyalitätskonflikt, dem Scheidungskinder fast zwangsläufig ausgesetzt sind, bekommt durch die ständig präsente Sprachbarriere eine fast schmerzhafte Dimension der Fremdheit: Zu wem gehört man, wenn die Eltern sich nicht mehr lieben? Zabeils Drama verdeutlicht dieses Dilemma geschickt: Während Tristans leiblicher Vater ihm sogar im Bergurlaub mit Mama Lea und Ziehpapa Nico auf Englisch hinterhertelefoniert, bittet seine Mutter ihn immer eindringlicher, Französisch zu sprechen. Und Nico, zu dem der Kleine eine Bindung aufbaut, für die er kaum noch ein Ventil findet, spricht Deutsch – noch so eine fremde Sprache.

Eskalation des Konflikts

„Drei Zinnen“ inszeniert das brutale Vor und Zurück, dem die Beziehung zwischen Tristan, Lea und Nico ausgesetzt ist, vor der markanten Kulisse der Dolomiten mit eindrücklicher Direktheit: Keine Musik, kaum erkennbare Schlüsselszenen oder nennenswerte Handlungspunkte treiben das Drama voran. Stattdessen verfolgt der Film die ständigen Grabenkämpfe zwischen seinen drei Figuren mit fast dokumentarischer Ziellosigkeit – und wirkt gerade deshalb so erschütternd nahbar. Mit radikaler Genauigkeit spielt Zabeil die kleinen, perfiden Machtspielchen zwischen seinen Protagonisten aus, das Bangen um den eigenen Platz im wackeligen Familiengefüge und die Angst vor der Eskalation eines dauerschwelenden Konflikts.

Sehen Sie hier den Trailer zum Film:

Solches Umherstreifen kann im schlechtesten Fall langweilig werden, doch „Drei Zinnen“ hält dagegen mit clever ausgeleuchteten Charakteren und einer kammerspielartigen, klaustrophobischen Atmosphäre. Dank seiner sensiblen, scharfkantigen Beobachtung schafft Zabeil es, die Beziehungen zwischen seinen Figuren, die klar im Vordergrund des Konflikts stehen, so komplex zu erzählen, dass man als Zuschauer zwischendurch schon mal vergessen kann, dass es sich um erzählte Wirklichkeit handelt – und eben keine Doku. Dazu kommt ein beeindruckend intuitiver Alexander Fehling, der die Figur des Nico dank seiner Mischung aus Verlorenheit und Tatendrang weit weg vom bemitleidenswerten Ersatzpapa inszeniert und ihr so die nötige Tiefe verleiht, um sie nicht als klischeehaftes Leidensmodell abzutun.

Blitzen der Liebe

Immer wieder baut Zabeil in sein Unheilsszenario geschickt kleine Gesten hoffnungsvoller Zuneigung ein und wirkt so der drückenden Stimmung entgegen: Zum Beispiel, wenn Nico den frierenden Tristan in eine Decke hüllt und ihm trotz ablehnendem Gemaule so lange vorliest, bis die Barriere bei dem Kleinen bricht und er in seinem Schoß wegnickt. Dann blitzt zwischen den Momenten verwirrter Wut ganz plötzlich die Liebe hervor, die keine der Figuren ganz zulassen kann.

Drei Zinnen. Deutschland/Italien 2017. Regie: Jan Zabeil. Mit Alexander Fehling, Bérénice Bejo, Arian Montgomery. 90 Minuten. Ab 12 Jahren.