Stadtdekan Christian Hermes sieht in der Austrittswelle vor allem den Frust der Menschen über den Unwillen der römisch-katholischen Kirche zu Reformen – nicht über die Ortskirche.

Exakt 359 338 Menschen haben der katholischen Kirche im vergangenen Jahr den Rücken gekehrt – sie sind ausgetreten. Es ist so, als ob alle Mannheimer und Sindelfinger auf einen Schlag gesagt hätten: „Ab sofort ist Glauben Privatsache, die Institution Kirche mit all ihren Sakramenten ist für mein Leben nicht mehr wichtig.“

 

Der Fluchtreflex betrifft freilich auch die evangelische Kirche. Hier traten bundesweit rund 280 000 Personen, im Land 45 226 Mitglieder aus. Die Zahlen für den Kirchenkreis Stuttgart konnte weder Stadtdekan Sören Schwesig noch Dan Peter, der Sprecher des Landesbischofs und der evangelischen Landeskirche, auf Anfrage nennen.

Dafür weiß der katholische Stadtdekan Christian Hermes sehr gut, wie viele Schafe aus seiner Herde seit dem Ende des vergangenen Jahres fehlen. In Stuttgart sind im vergangenen Jahr insgesamt 3052 Menschen aus der katholischen Kirche ausgetreten, im Vergleich zu 2089 Austritten im Jahr 2020 und 2622 im Jahr 2019. Demnach gehörten zum Jahresende 2021 nur noch 127 625 Frauen und Männer der katholischen Kirche in Stuttgart an (im Vergleich zu 132 873 im Jahr 2020).

Katholikentag als Zeichen der Erosion

„Wir haben im vergangenen Jahr so viele Menschen wie noch nie binnen eines Jahres verloren. Übertragen ist das eine große Gemeinde, die sich verabschiedet hat. Das ist eine Entwicklung, die uns wachrütteln muss und die wir nicht schönreden dürfen“, sagt Hermes betroffen.

Für den Stadtdekan ist die Verschärfung dieser jahrelangen Entwicklung, die auch von den ernüchternden Besucherzahlen des Deutschen Katholikentages in Stuttgart (27 000) belegt wurde, erneut ein deutliches Signal an die Kirchenleitungen hierzulande, aber auch in Rom. Lange überfällige Reformen dürfen aus seiner Sicht nicht weiter hinausgeschoben und verschleppt werden. Tatsächlich habe das Stadtdekanat viele Rückmeldungen von enttäuschten Christen. Briefe und persönliche Meldungen an die Gemeinden in Stuttgart würden vor allem eines zeigen: Es seien nicht die schlechten Erfahrungen mit der katholischen Kirche in Stuttgart, die Menschen zum Austritt führen, es ist die Gesamtlage. Und damit auch die Reformunfähigkeit der römisch-katholischen Kirche. Dies ist offenbar für viele nicht mehr zu ertragen. Offensichtlich haben viele die Geduld verloren. Sie glauben nicht mehr daran, dass sich in dieser Kirche etwas grundsätzlich verändert.

Spott von Papst Franziskus

Mag sein, dass sogar Papst Franziskus seinen Anteil an diesen Zweifeln hat. In einem Interview meinte er zum deutschen Synodalen Weg, in dem sich Laien und Kleriker um Reformen bemühen: Es gebe schon eine sehr gute evangelische Kirche in Deutschland, man brauche keine zweite.

Hermes indes sieht die Sache etwas anders: „Missbrauch und seine Vertuschung, Machtgebaren in der Kirche, Mitbestimmung, Geschlechtergerechtigkeit, Amtsverständnis, Moral: das sind für sehr viele inzwischen Ärgernisse, die sie nicht mehr tolerieren.“ Er setzt deshalb weiter auf den Synodalen Weg. Die Synodalversammlung habe bereits viele Reformvorschläge zu verschiedenen Themen vorgelegt, auch im Bereich Gewaltenteilung, Machtkontrolle, Geschlechtergerechtigkeit und Sexualität und damit auch zu der Rolle der Frau und dem Umgang mit gleichgeschlechtlichen Paaren. „Ich wundere mich sehr über manche Kritik am Synodalen Weg, die diesen als gefährlich für den Bestand der Kirche ansieht. Ganz im Gegenteil: Selbstverständliche Rechts- und Gerechtigkeitserwartungen von Menschen des 21. Jahrhunderts zu ignorieren gefährdet die Kirche“, sagt Christian Hermes und ergänzt: „Deshalb werde ich mich weiter für Reformen einsetzen, selbst wenn ich weiß, dass die allgemeine Entwicklung, siehe evangelische Kirche, die ehemaligen Volkskirchen weiter abschmelzen lässt.“

Gute Arbeit vor Ort

Für die Arbeit vor Ort gibt es nach Ansicht von Christian Hermes nur eines: nah an den Menschen sein, Schwerpunkte setzen, Neues wagen, sich in gesellschaftlichen und sozialen Fragen auf der Höhe der Zeit zeigen. „Wir haben mit dem Spirituellen Zentrum ‚Station s‘ und der Kirche St. Maria unsere Kirchen weit in die Stadtgesellschaft hinein geöffnet“, sagt er, „damit sprechen wir auch Menschen an, die sonst keinen Kontakt mehr zu Kirche haben.“

Was der Stadtdekan damit meint, zeigt ein Beispiel aus der vergangenen Woche. Kirstin Kruger-Weiß vom Spirituellen Zentrum führte religiöse Menschen durch einen achtsamen Abend auf dem Rotenberg. Das Motto lautete: „Mit dem aufmerksamen Eintauchen in die Natur nehmen wir die Verbindung zu ihr wieder auf.“ Der Abend war laut der Teilnehmer ein voller Erfolg. Weit ab von Normen, Dogmen oder kirchlicher Gängelung. Und damit passt er in das Konzept von Ortskirche und ist für Hermes eine Ermutigung: „Wir werden jedenfalls in Stuttgart weiterhin spirituell, sozial, kulturell und gesellschaftlich unser Bestes geben.“