Stuttgart - Hubert Wolf, einer der renommiertesten Kirchenhistoriker, wird am 2. März mit einem fünfköpfigen Forscherteam in Rom sein. Das Vatikanische Geheimarchiv öffnet 2020 seine Pforten für Forscher. Der 60-jährige Münsteraner Professor aus Schwaben kennt sich in den Archiven des Vatikans bestens aus, er forscht dort seit rund drei Jahrzehnten. Obwohl er nicht mit schnellen Ergebnissen rechnet, verspricht er sich Aufschluss zu brennenden Fragen. Muss die (Kirchen-)Geschichte neu geschrieben werden?
Herr Professor Wolf, wie katholisch muss man eigentlich sein, um zu glauben, dass die katholische Kirche wirklich alle Akten über Pius XII. zur Einsicht freigibt?
Ich glaube nicht, dass das eine Glaubensfrage ist.
Sie haben keine Zweifel?
Hinter der Frage steckt die Vermutung, man hätte einen Teil der Akten aussortieren können oder würde sie möglicherweise nicht zugänglich machen. Das würde ich der katholischen Kirche zwar prinzipiell zutrauen, nur ist es in dem Fall angesichts der schieren Masse an Material fast nicht möglich. Man weiß in Rom eigentlich gar nicht genau, was man hat. Man macht einfach mal 250 000 Archivschachteln zugänglich. Und wenn man etwas rausnehmen würde, würden Historiker wie ich das spätestens nach ein bis zwei Jahren merken. Denn die Vatikan-Akten haben den großen Vorteil, dass sie gleich mehrfach miteinander vernetzt sind durch Protokollnummern und inhaltliche Bezüge, sodass ganz schnell deutlich wird, wenn etwas fehlt.
Die Öffnung der Archive für die Zeit von Pius XII. hat sich um rund 20 Jahre verzögert. Das lässt viel Spielraum für Spekulationen und Verschwörungstheorien.
Es hat schlicht so lange gedauert, weil das wahnsinnig umfangreiche Material von sehr wenigen Mitarbeitern sortiert und mit Seitenzahlen und Signaturen versehen werden musste. Die Problematik liegt eher woanders: Es gibt im Archivgesetz aus dem Jahr 2005 von Papst Johannes Paul II. einen Abschnitt, wonach personenbezogene Daten nicht mehr zugänglich gemacht werden dürfen. Davon könnten beispielsweise Bischofsernennungen oder Ernennungen von anderen kurialem Personal betroffen sein. Ob das so kommt, wird sich zeigen.
Was ist zu erwarten, wenn sich die Archive von 1939 bis 1958 öffnen?
Es kursieren Unkenrufe, wonach die Aufarbeitung von insgesamt 250 000 Archivschachteln allein im Vatikanischen Geheimarchiv und weiteren 100 000 in anderen Archiven sowieso nichts Neues bringt. Ich würde mal sagen: Wir haben jetzt mindestens 30 Jahre darauf gewartet, dass wir anhand der Quellen versuchen können, offene Fragen der Geschichte zu beantworten. Es kann natürlich trotzdem sein, dass die Quellen die Antworten nicht geben.
Wie bewusst waren dem Vatikan die Schreckensherrschaft der Nazis in Deutschland, die Verbrechen, der Holocaust?
Das war den Verantwortlichen im Vatikan sehr bewusst. Und jetzt kommt genau die Frage: Warum hat der Papst geschwiegen?
Warum hat er geschwiegen?
Wir können uns natürlich der Meinung der Apologeten anschließen, die sich auf die Autobiografie der Haushälterin von Papst Pius XII. stützen. Dort steht: Als der Papst von Auschwitz hörte, habe er einen klaren Protest formuliert. Nachdem die holländischen Bischöfe ihrerseits protestiert hatten und danach sogar die Zahl der Deportation von getauften Juden nach oben ging, habe er das Protestschreiben in einem Ofen verbrannt. Aber dieses Ereignis allein zu betrachten ist mir zu wenig. Wir müssen die Frage viel weiter fassen: Wie viel weiß Pius XII. überhaupt? Wie umfassend ist er informiert? Vor allem: Wann weiß der Papst was vom wem?
Das heißt aber, die Grundfrage bleibt: Warum hat er zum Holocaust geschwiegen?
Ja, die Frage der Vernichtung der Juden wird das große Thema zu Beginn der Archivöffnung sein. Man muss natürlich der Frage nachgehen: Warum hat er dazu bis 1945 geschwiegen? Es gibt aber eine noch viel schlimmere Frage: Warum hat er von 1945 bis 1958 geschwiegen, als es vollkommen gefahrlos gewesen wäre, sich zu äußern? Warum hat er keinen einzigen Satz dazu gesagt? Warum hat er sich gegen die Gründung des Staates Israel 1948 in drei Enzykliken ausgesprochen?
Ist dieses Verhalten des Papstes eine Schande für die katholische Kirche?
„Schande“ ist sicher keine historische Kategorie, sondern eine theologische, insofern muss sich die Kirche schon fragen lassen, wie sie mit ihrer Geschichte umgeht. Und ob das mit dem Schuldbekenntnis von Johannes Paul II. abgegolten ist, steht dahin. Im Jahr 2000 hatte er als erster Papst in der Kirchengeschichte um Vergebung gebeten für die Irrtümer und Verbrechen, die im Namen des katholischen Glaubens begangen wurden – das Schweigen seines Vorgängers und der Kirche zum Holocaust hat er aber nicht ausdrücklich erwähnt.
Wusste Pius XII. von den sogenannten Rattenlinien, den Fluchtrouten führender Nazivertreter nach dem Krieg?
Es gab ja unterschiedliche Rattenlinien: Naziverbrecher bekamen mit Unterstützung des Vatikans Papiere, Pässe und Visa und konnten damit zum Beispiel nach Argentinien ausreisen. Die Frage ist: Weiß das der Papst, oder weiß er es nicht? Eine Lesart lautet: Es gibt Displaced Persons, Zwangsverschleppte oder Zwangsarbeiter, die keine Papiere haben, aber als Katholiken den Papst um Hilfe bitten. Der hilft, und die Nazis schmuggeln sich unter diese. Die andere Lesart ist: Papst Pius XII. weiß genau, was er tut, und setzt sich für bestimmte Leute ein, damit sie nach Lateinamerika kommen.
Und was meinen Sie?
Ich habe eine dritte These: Der Papst macht das gezielt, weil ihm der amerikanische Geheimdienst CIA sagt: „Wir müssen in Lateinamerika vernünftige, national denkende Menschen haben, damit das Gebiet nicht in die Hände der Kommunisten fällt“ – wie es in den 1950er Jahren in Kuba dann ja tatsächlich auch passiert. Die Frage ist, ob sich diese Hypothese bewahrheitet oder ob sie durch die Quellen widerlegt wird.
Um wie viel Archivmaterial handelt es sich? Es ist von 16 Millionen Papieren die Rede.
Ich weiß es nicht. Das kann man gar nicht wissen. Wir haben allein 100 Archive von Nuntiaturen (Botschaften des Vatikans, Anm. d. Red.), darin sind die Berichte aus den jeweiligen Ländern enthalten, die nach Rom transferiert wurden. Das Deutsche Nuntiaturarchiv ist nicht darunter, weil es im Zweiten Weltkrieg in Berlin verbrannt ist. Die meisten denken: Ich fahr jetzt mal für drei Wochen nach Rom und schau mir die Bestände an, und dann stoße ich auf etwas. So funktioniert das aber nicht.
Wie dann?
Das ist wie Troja ausgraben. Wir müssen erst einmal an einzelnen Stellen Probegrabungen machen.
Was bedeutet das?
Ich warne vor schnellen Ergebnissen! Allein die Sichtung wird Jahre dauern. Nehmen wir zum Beispiel den Holocaust. Über welche Kanäle bekam der Papst seine Informationen? Erstens: über die Nuntien in Polen, Deutschland, der Schweiz und – ganz wichtig – über den Apostolischen Delegaten in den USA. Also erster Check: Was schreiben ihm seine offiziellen Vertreter mit der Diplomatenpost zu dem Thema? Hier müssen wir uns die Dokumente von 70 Nuntiaturen anschauen, nur um zu sehen, wo sich da was tut.
Der nächste Schritt?
Besteht darin, die Empfänger in Rom anzuschauen. Das wären dann Akten, die im Archiv des Staatssekretariats liegen. Welche Infos, die die Nuntien gesammelt haben, kommen überhaupt nach Rom und welche nicht? Was machen die in Rom mit den Infos? Geben sie sie an den Papst weiter? Gibt es Kommissionen oder Kongregationen, die sich mit einem Problem, einer Frage beschäftigen? Wird ein Gutachter gebeten, alle Berichte und Informationen etwa zum Holocaust zusammenzutragen, zu beurteilen, zu bündeln und es für den Papst aufzuschreiben?
Sie fiebern der Öffnung sichtlich entgegen.
Ja, klar. Ich habe 30 Jahre darauf gewartet! Das ist ein bisschen wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten zusammen. Ich bin Theologe, da können Sie sich vorstellen, was das bedeutet. Für jemand, der seit 30 Jahren einen Gutteil seines Lebens in den vatikanischen Archiven zugebracht hat, ist das am Schluss einer wissenschaftlichen Laufbahn – ich bin jetzt 60 – eine Art Krönung. Auch wenn ich weiß, dass ich auf manche Fragen keine Antworten finden werde. Aber das ist nicht schlimm, weil der Historiker offene Fragen stellt.
Wenn Sie einen Wunsch frei hätten: Was würden Sie gerne finden?
Ich würde gerne verstehen, warum Pius XII. nicht öffentlich protestiert hat. Dazu würde ich gerne die gesamte Überlieferung prüfen: Wie präsent ist das Thema damals? Ist es so präsent, wie wir heute denken? Oder spielt es gar keine Rolle? Und wenn es die Rolle spielt, was haben die Leute im Vatikan intern gedacht? Entscheidungsfindung im Vatikan hat ja oft mit Gutachten zu tun. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Papst nicht jemanden damit beauftragt hat aufzuschreiben, was in Deutschland läuft. Und ich würde gerne wissen, warum der Protest des Papstes nach dem Krieg nicht weiterging.