Chefredaktion : Holger Gayer (hog)

Dabei hatte er erhebliche Mühe mit den Versen, die ihm zugeteilt worden waren: Prediger 3, 9-13. Der pessimistische Kohelet, der fragt: „Welcher Gewinn bleibt denen, die etwas tun, von ihrer Mühe?“ Eine ziemlich schwere Kost sei das, sagt Kretschmann und erinnert an einen Buchtitel des Theologen Fulbert Steffensky: „Schwarzbrot-Spiritualität“.

 

Trotzdem stellt er sich der Aufgabe und nutzt sie zu einem Ausflug in die politische Welt des Winfried K. aus B-W. Alsdann: vordringliche Aufgabe des Staates sei es, die materielle Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten. Nur wer sicher sei, könne auch die Sinnfrage stellen, „und dann bekommen Überlegungen zu einem bedingungslosen Grundeinkommen oder zur Auskömmlichkeit von Sozialleistungen plötzlich eine andere Bedeutung“. Ein weit verbreiteter Irrtum sei dagegen, dass die Politik selbst ihre Bürger glücklich machen solle. Dies sei nicht der Fall. Zwar gelte uneingeschränkt die Kernthese von Kretschmanns Haus- und Hofphilosophin Hannah Arendt („Der Sinn von Politik ist Freiheit“), aber der Staat brauche auch Menschen, „die mit ihrer Freiheit etwas anzufangen wissen, an etwas glauben, die von etwas überzeugt sind, die sich für ihre Werte und Ideale einsetzen“. Worte sind das, die ankommen im Kreise der Gläubigen, und der Applaus des Publikums gefällt dem Prediger auch sichtlich, obwohl er noch längst nicht fertig ist. Es fehlt noch die Verbindung zu Gott.

Als junger Grüner wollte Kretschmann die Welt retten

Er sei es nämlich, der dem Menschen eine Aufgabe gegeben habe – und zwar nach dem Motto: „Mach etwas Gutes daraus!“ Dies müsse im Hier und Jetzt geschehen: „Nur weil unser Leben kurz, also begrenzt ist, handeln wir. Würden wir ewig leben, würden wir alles immer nur aufschieben.“ Oder, um es mit der Schweizer Philosophin Jeanne Hersch – sie ist die zweitwichtigste Frau in Kretschmanns Bücherregal – zu sagen: „Der jetzige Augenblick würde zu irgendeinem. Jede Einmaligkeit wäre ihm fremd.“ Weil aber der Mensch nur den begrenzten Zeitraum seines eigenen Lebens überblicken kann, dürfe er auch mit unvollendeten Aufgaben vor Gott treten. „Als junger Grüner dachte ich, ich muss – mit anderen – die Welt retten“, sagt Kretschmann. Heute wisse er: „Das kann ich nicht.“

Deswegen kommt nun der Lieblingsphilosoph von Kretschmanns Amtschef Klaus-Peter Murawski zum Einsatz. Es handelt sich um Karl Popper. Er sagt: „Wenn wir die Welt nicht wieder ins Unglück stürzen wollen, müssen wir unsere Träume der Weltenbeglückung aufgeben.“ Dennoch, meint Popper, dürften die Menschen Weltverbesserer bleiben – „aber bescheidene Weltverbesserer“. Volle Zustimmung dazu vom Ministerpräsidenten – und ein Fazit, das auch Angela Merkel bestimmt gefallen hätte: „Nicht die Verklärung früherer Zeiten und nicht die Utopien künftiger Zustände, sondern die Verantwortung für die Gegenwart, das Jetzt der Entscheidung – das ist Politik.“