Ist der Pietismus dem Politischen gegenüber skeptischer als die liberale Richtung?
Albrecht: Es gibt im Pietismus einen Zug, sich auf seine Innerlichkeit zurückzuziehen. Das hat den Vorteil: Jeder Mensch steht einzeln und alleine vor seinem Gott, ganz unmittelbar. Aber diese Haltung kommt an Grenzen, wenn es nicht mehr darum geht, dem Einzelnen zu helfen, weil man in die Breite gehen muss. Da haben wir Defizite. Eines aber wird bleiben: der Vorrang von Heil vor Wohl. Es ist toll, wenn es einem Menschen wohl ergeht, in seiner Seele kann er dennoch kaputt sein.
Käpplinger: Dazu kann ich nur sagen: Das Beten und die Beschäftigung mit der Bibel sind die eine Sache, aber ich lebe als Christ in dieser vorläufigen Welt, und da will ich mich einbringen.
Beim Thema Mission gehen die Vorstellungen auch weit auseinander.
Albrecht: Dabei ist eine der großen Herausforderungen, wie wir mit Menschen, die sich ganz am Rande des christlichen Glaubens bewegen, missionarisch ins Gespräch kommen. Beim Kirchentag will man sich von allem abgrenzen, was nur einen Hauch von Zwangsmissionierung hat. Diese Abgrenzung ist so perfekt, dass der notwendige Teil der Mission, das Gesendetsein des Evangeliums zu aller Welt, da und dort zu kurz kommt.
Manchmal hat man den Eindruck, das Profil der konservativen evangelischen Christen ist klarer als das der liberalen.
Käpplinger: Diese Frage hört man immer wieder: Wo ist den eure Kante? Aber man muss doch sagen: Unsere Qualität ist, dass wir reflektiert und abwägend argumentieren. Das hat nichts mit Beliebigkeit zutun, das ist eine Stärke.
Albrecht: Für uns Pietisten gilt nebst aller Abgewogenheit und Differenziertheit, dass entscheidende Aussagen des Evangeliums das gerade nicht sind: „Geht ein durch die enge Pforte“ – „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ – „Kehrt um, glaubt an das Evangelium“. Das sind Exklusivpartikel, die relativ unbeliebt sind, aber das Christsein ausmachen.
Bringt nicht die konservative Richtung etwas ein in die Kirche, was auch heute für viele Gläubige wichtig ist: Frömmigkeit und Spiritualität?
Käpplinger: Schon seit einigen Kirchentagen nehmen die Angebote an Gottesdiensten und im Bereich von Spiritualität und Mystik zu. Und das ist in den Gemeinden auch angekommen.
Albrecht: Wenn man schaut, was an Gebet und Musik beim Kirchentag angeboten wird, kann man sagen: was davon aus dem pietistisch-evangelikalen Bereich kommt, ist mit 60 bis 70 Prozent dominierend. Der Kirchentag ist heute viel mehr als früher auch eine Gebets- und nicht mehr so sehr eine Resolutionsbewegung.