Kultur: Tim Schleider (schl)

Doch zurück nach Stuttgart: Wäre es unter diesen Umständen nicht auch ein richtiges Zeichen gewesen, die Inszenierung komplett abzusagen? Sergio Morabito wehrt energisch ab: „Theater bedeutet nichts, wenn es nicht stattfindet. Eine gestrichene Inszenierung wird immer nur eine Fußnote sein.“ Aber wie kann man eine Oper seriös proben, ohne dass der Regisseur dabei ist, gerade an der Stuttgarter Oper, die seit Jahren die Fahne sorgfältiger Dramaturgie- und Regiearbeit hochhält? „Das genau versuchen wir jetzt auszuloten“, sagt Wieler. „Wir haben ja keinen direkten Kontakt mehr zu Kirill“ – der Regisseur steht praktisch unter Kontaktsperre. „Deswegen haben wir über seinen Anwalt Fragen an ihn gestellt, wie wir mit seiner Arbeit umgehen sollen und dürfen. Wir werden nichts gegen seinen Willen tun und hoffen, in den nächsten Tagen Antwort über den Anwalt zu bekommen. Wichtig ist für uns, dass Kirill weiß, wir halten an ihm und seiner Arbeit in Stuttgart fest.“

 

Serebrennikow, der just an diesem Donnerstag 48 Jahre alt wird, führt nicht nur Regie bei „Hänsel und Gretel“, sondern konzipierte auch Bühne und Kostüme. Vor allem hat er in Ruanda besagten Film gedreht, der die Geschichte zweiter Kinder erzählt, die auf Reisen gehen und bei der Suche nach einem besseren Leben vor dem Hexenhaus landen. Dies ist mehr als eines der üblichen Videos, wie sie vielfach auf der Opernbühne Verwendung finden – es ist tatsächlich ein kompletter Spielfilm geworden, abendfüllend, vom Regisseur fertig geschnitten, „kraftvoll wie ein Epos“, so Wieler. Der Film liegt in Stuttgart vor, zusammen mit allen Entwürfen und dem Inszenierungskonzept. „Aber all das ist Serebrennikows Schöpfung, und wir werden so damit umgehen, wie er es uns erlaubt.“

Das Theater beansprucht eine politische Haltung

Noch eine wichtige Entscheidung, die Stuttgart getroffen hat: Sollte Serebrennikow zu einem späteren Zeitpunkt doch reisen dürfen, könnte er auch nach dem 22. Oktober seine Inszenierung noch persönlich auf die Bühne bringen. „Es geht bei allem nicht nur um Fragen des Spielplans“, meint Wieler. „Es geht hier für die Oper um eine politische und ethische Dimension.“

So findet sich noch vor Beginn der Saison die Stuttgarter Oper plötzlich wieder mitten in der Politik – und eine kleine, hochromantische deutsche Märchenoper von 1893 wird zum großen Politikum. Für den ersten Probentag am 18. September sind bereits russische Journalisten angemeldet. Beklagen sich Wieler und Morabito über diese Last? „Was sollen wir da stöhnen?“, wehrt Wieler ab. „Wir arbeiten hier in Freiheit und sind ein Staatstheater. Wir haben alle Ressourcen, um mit dieser Situation umgehen zu können. Dafür gibt es uns, dass wir uns nicht beklagen, sondern dass wir große Kunst anstreben, aber auch Haltung zeigen.“ Der Titel „Opernhaus des Jahres“ ist mit Ende der letzten Saison eigentlich abgelaufen. Doch man spürt auch jetzt und hier, woher der Titel rührt.