Seit gut vierzehn Monaten steht der Regisseur Kirill Serebrennikow in Moskau unter Hausarrest. Die Neuinszenierung von Mozarts „Così fan tutte“ am Opernhaus Zürich verantwortete er dennoch. Ein denkwürdiger, spannender Abend.

Zürich - Der Abschied ist endgültig. „Soave sia il vento!”, wünschen Fiordiligi, Dorabella und Don Alfonso: Sanft möge der Wind sein! Im hochgefahrenen Orchestergraben lassen die gedämpften Geigen freundliche kleine Wellen plätschern. Aber auf der Bühne blickt niemand einem Schiff hinterher, auf dem zwei Männer in den Krieg reisen. Nein: In Kirill Serebrennikows Inszenierung von Mozarts „Così fan tutte“ am Opernhaus Zürich hat eine ganz andere Barke Guglielmo und Ferrando in ganz andere Gefilde gebracht. Don Alfonso, manisch am Joystick fummelnd, lässt grausige Filmbilder im Hintergrund vorüberziehen: Bilder von rennenden Soldaten und brennenden Städten. Nun stehen die Damen zwischen Grabkränzen im Krematorium und singen mit ihm zusammen das berühmte Terzettino, während über den Särgen der Geliebten die Flammen lodern.

 

Kirill Serebrennikow? Seit August 2017 darf der russische Regisseur seine kleine Wohnung in Moskau nur für kurze Spaziergänge verlassen, gerade hat man seinen Hausarrest abermals (bis April 2019) verlängert. Den Vorwurf, öffentliche Fördergelder unterschlagen zu haben, haben etliche Mitarbeiter Serebrennikows zwar entkräftet, aber das Verfahren läuft weiter, weil es tatsächlich nicht um konkrete Vergehen geht, sondern um ein Exempel, das man an einem Künstler und Freigeist statuieren will. Rein physisch ist Serebrennikow ein- und ausgesperrt. Aber sein Geist hat es, befördert via Internet und vermittelt durch seinen Anwalt, locker bis nach Zürich geschafft und weht dort ziemlich heftig.

Serebrennikow begleitete die Inszenierung via E-Mail über seinen Rechtsanwalt

Cornelius Meister, Generalmusikdirektor der Staatsoper Stuttgart, steht als Gast am Pult des Zürcher Opernorchesters, das sich seit dem Amtsantritt des Intendanten Andreas Homoki 2012 Philharmonia Zürich nennt, und in einem Programmheft-Interview spricht der Dirigent von einem „engen E-Mail-Austausch“ mit dem Regisseur. Den muss auch Serebrennikows Mitarbeiter Evgeni Kulagin gehabt haben, der das Konzept in Zürich umsetzte, denn am Sonntagabend erlebt man einen quicklebendigen Abend, dessen Lust am Spiel, an Witz und Ironie man einem seit gut 14 Monaten auf etwa 30 Quadratmetern festgesetzten Mann einfach nicht zugetraut hätte. Und man sieht eine auf detaillierteste Weise durchgestaltete Inszenierung, deren Sänger-Darsteller alles geben. Nein, mehr noch: Sie entäußern sich vollständig, immer wieder. Im Falle von Anna Goryachova, die eine ungemein farbreiche Dorabella gibt, und von Ruzan Mantashyan, die der Fiordiligi eine schöne, bewegliche Höhe beigibt, gilt das besonders, denn für ihr oft ziemlich hüllenarmes Spiel riskieren diese Sängerinnen sogar immer wieder den Verlust stimmlicher Kontrolle. Das muss man bewundern. Dort, wo man es bedauert, hat das auch damit zu tun, dass an diesem Abend insgesamt leider viel zu laut und dynamisch zu einförmig gesungen wird. Ob das der dominierenden Turbulenz der Szene, der Übermacht der vielen Bilder geschuldet ist? Jedenfalls hätte man Cornelius Meister, der sehr klar, straff, oft auf schöne Farbreize hin dirigiert und zudem die heikle Koordination der Sänger auf zwei Bühnen-Stockwerken exzellent hinbekommt, mehr Differenzierung gewünscht.

Die Bühne zeigt zwei Stockwerke eines variabel bespielten Hauses, und so viel ist dort zu sehen! Die Reise beginnt in einem nach Geschlechtern geteilten Fitnessstudio, in dem drei Kumpels zwischen Hanteln und Boxsack eine richtig blöde Männer-Macht-Wette abschließen, und gipfelt in den beiden wechselnd benutzten Schlafzimmern der Damen. Ihre Arie „Smanie implacabili“ singt Dorabella als grandiosen Wutanfall mit gelegentlicher Nähe zum Slapstick; ihre Therapeutin Despina schiebt eine Power-Point-Präsentation über die weibliche Emanzipation hinterher. Ständig werden die Zimmer umgebaut, ständig passiert etwas, notfalls sogar mit den Urnen der Eingeäscherten. Es gibt immer etwas zum Gucken.

Aus zwei Männern werden vier: zwei Sänger und ihre Schauspieler-Doubles

Das liegt auch an der Vielzahl der Beteiligten, die Serebrennikow um zwei Schauspieler erweitert. Während Guglielmo und Ferrando (Andrei Bondarenko und Frédéric Antoun, beide gut besetzt), schwarz gekleidet, nach ihrem Ableben auf dem Schlachtfeld als nur singende Schatten im Bühnenhintergrund bleiben, machen sich vorne zwei (überaus virile) Schauspieler vor allem physisch an die Frauen heran. Mit dieser Doppelung hebelt der Regisseur zwei große Probleme des Stücks aus: dass nämlich unglaublicherweise die Frauen ihre eigenen Männer nicht erkennen – und dass es außerdem auf der Szene so etwas wie vorgetäuschte Gefühle gibt, während Mozarts Musik alle Emotionen gleich ernst und wichtig nimmt.

Ohne Brüche und Eingriffe in das Stück funktioniert das Konzept allerdings nicht. Weil in Zürich die erotischen Eroberungsfeldzüge der Schauspieler-Männer ausschließlich auf Sex abzielen und weil die zwei Schattenmänner selbst im Bäumchenwechseldich-Spiel außen vor bleiben, spricht nur noch die Musik von der tiefen Verunsicherung von vier Menschen, die sich ihrer eigenen Gefühle nicht mehr sicher sind. Denen es den Boden unter den Füßen wegzieht.

Zu hören ist das früh, aber sehen ist es erst im zweiten Finale. Da lässt plötzlich, ganz plötzlich, Cornelius Meister am Pult die „Don Giovanni“-Ouvertüre hereinklingen: zwei mächtige Akkordblöcke zu Beginn, eine fallende Quart, Nachklänge wie dunkle Echos oder Schatten. Zu dieser Musik tauchen die beiden Toten auf wie im „Don Giovanni“ der steinerne Gast, und so wie dieser den Schwerenöter in die Hölle schickt, tun das die Männer aus dem Schattenreich nun mit ihren sexuell ebenso aktiven Schauspieler-Doubles. Der Schluss ist Verwirrung. Die Paare stehen beieinander, daneben die Strippenzieher Don Alfonso (Michael Nagy) und Despina (Rebeca Olvera). Dahinter liest man, auf die Wand gekritzelt, den Titel der Oper, deren weibliches e am Schluss durchgestrichen und durch ein i ersetzt wurde: weil hier noch weniger als in anderen Inszenierungen die Frauen Schuld sind am Liebesdebakel. Così fan tutti, so machen es alle, Männlein wie Weiblein, und plötzlich ist die turbulente Komödie mit unvermittelten Seria-Einschüben, als die sich das Stück zuvor gegeben hat, todernst. Und zum Applaus stülpen sich die Darsteller T-Shirts über. Sie zeigen das Gesicht eines dritten Schattenmannes: des Regisseurs, der nicht da war und doch ganz präsent. „Free Kirill!“ steht darauf.