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"Der Schrecken von Neukölln"


Sie ist Jugendrichterin, eine von 65 in Berlin. Sie wollte nie etwas anderes sein. Schon als Kind schaute sie am liebsten "Ehen vor Gericht". Und fand es gut, dass bei einem Streit einer da ist, der den Hut aufhat. Heisig ist keine Karrierejuristin, sie ist all die Jahre am Amtsgericht geblieben. Aber es gibt in Berlin kaum einen, der sie nicht kennt. Auf den Straßen von Neukölln heißt sie nur manchmal ein bisschen anders. Richterin Gnadenlos, Mutter Courage. Oder: der Schrecken von Neukölln.

Das mit dem Schrecken ist allerdings eine Frage der Perspektive. Für Kirsten Heisig war es irgendwann keine Perspektive mehr, so weiterzumachen wie bisher. 15 Jahre arbeitete sie da in ihrem Job, und merkte irgendwann, dass sich etwas verändert hatte. Mehr Gewaltdelikte, heftigere Aggressionen, schiere Lust an Gewalt. Kinder, die mit acht Jahren anfangen, Straftaten zu begehen, für die dann, wenn sie mit 14 zum ersten Mal vor einem Richter stehen, alles zu spät ist. Ein ratloser Staat. Strafen die nichts nützten, Gruppen, die den Staat als Autorität nicht anerkennen.

Da war sie angekommen in Nord-Neukölln, dem Zentrallager der Hauptstadt für sozialen Sprengstoff: 70 Prozent der Kinder leben in Armut. Fast jeder zweite Bewohner hat ausländische Wurzeln. Gut jeder zweite Migrant ist arbeitslos. Fast jeder dritte verlässt die Schule ohne Abschluss. Hier werden 40 Prozent mehr Straftaten begangen als im Berliner Durchschnitt.

Sie begann alles anders zu machen


Und was kann eine Jugendrichterin da machen? Die Wirklichkeit vor die Tür sperren. Dienst nach Vorschrift: Verfahren abarbeiten. Anderthalb Jahre nach der Tat junge Männer ermahnen, die sich vor lauter neuen Delikten an ihre erste Straftat schon gar nicht mehr erinnern. Kirsten Heisig machte keinen Dienst nach Vorschrift.

Sie machte die Tür weit auf, und schaute sich die Realität an. Spazierte durch Neukölln. Redete mit Lehrern, Sozialarbeitern, Polizisten. Und begann, alles anders zu machen: Mehr Tempo im Gerichtssaal, Konsequenzen sofort, mehr Verantwortung für die Eltern, mehr Zusammenarbeit mit Jugendamt und Schule. Heute heißt das "Neuköllner Modell". Damals marschierte sie einfach los zu ihrem Polizeirevier. Mit den Beamten sprach sie über die Idee, dass Jugendliche binnen drei Wochen nach der Tat vor dem Richter stehen könnten. Das geht rechtlich bei kleineren Delikten. Aber damit es umgesetzt wird, braucht man Polizisten, die einen Fall entsprechend einschätzen können, und einen Staatsanwalt, an den sie sich wenden. Heisig legte los. Im kleinen Rahmen.

Und sie hörte nicht wieder auf, auch da nicht, wo ihre Arbeit zu Ende war. Sie fragte sich zum Beispiel, wieso man beim Neuköllner Schulamt keine Bußgeldbescheide gegen Eltern erlässt, deren Kinder nicht zur Schule kommen. "Dort ging man davon aus, dass Bußgeldverfahren nicht vollstreckt werden könnten, weil die Eltern Hartz-IV-Empfänger sind." Was falsch ist. Arme Menschen können in Raten bezahlen. Seither werden Bußgelder verhängt. Wenn Eltern nicht zahlen, scheut Heisig auch nicht davor zurück, Erzwingungshaft anzudrohen. Oder sie schafft den Fall zum Familiengericht - weil sie das Wohl des Kindes, das die Schule nicht besucht, gefährdet sieht.

Appell an die Eltern, den Schulbesuch zu kontrollieren


Bei all den Jugendlichen, die bei ihr landen, fiel der Juristin eines auf: alle waren Schulschwänzer. Kirsten Heisig fand, die Eltern sollten das wissen. Also begann sie, auf Elternabenden für türkische und arabische Mütter und Väter darüber zu sprechen. Sie macht das nun regelmäßig. An diesem Abend in einer Neuköllner Schule spricht sie von Mutter zu Mutter: "Sie haben Kinder, ich habe Kinder, wir alle wollen das Beste für sie." Sie appelliert an die Eltern, den Schulbesuch zu kontrollieren. Zwei Dolmetscher übersetzen. Die Eltern, so ihre Erfahrung, verstehen ihre Botschaft genau. Ohne Bildung ist in dieser Gesellschaft nichts zu erreichen.

60 bis 70 Stunden hat die Arbeitswoche dieser Frau. "Wenn die Jugendlichen vor Gericht kommen, dann sind wir als Geselllschaft manchmal bereits zu spät dran", sagt Heisig. "Das wissen alle, aber keiner tut etwas dagegen." Mitte dieses Jahres wird das "Neuköllner Modell" berlinweit in allen Polizeidirektionen umgesetzt sein. Die Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) notiert sich das in ihrer politischen Erfolgsbilanz. Was nicht heißt, dass sie auch nur ein einziges Mal persönlich mit der Richterin gesprochen hätte. "Es war ja keine Erfindung von mir", sagt die bescheiden. Das Gesetz sieht beschleunigte Verfahren vor. Aber es gab sie eben bisher nicht. "In den eigenen Reihen habe ich am Anfang nichts als irritiertes Schweigen geerntet." Schon allein deshalb, weil es nicht üblich ist, dass einer aus dem Fußvolk einfach Dinge ändert.

Aber auch, weil es eben Kirsten Heisig war, die es änderte. Denn diese kleine Frau mit der hellen Stimme stört irgendwie dauernd. Sie sagt den anderen, was bei ihnen falsch läuft. Der Polizei, den Ämtern, der Politik. Sie beklagt die Zustände in den Schulen, sie zürnt über den Berliner Senat, weil er die Meldepflicht für minderschwere Delikte an Schulen aufgehoben hat. Sie ist die fleischgewordene Kompetenzüberschreitung. Und sie bringt in Berlin manche Leute auf die Palme.