Schminke im Gesicht, Kunstnebelorgien, das gute alte Gitarrensolo: Dem Zeitgeist rennt die US-Hardrockband Kiss bei ihrem ausverkauften Konzert in der Stuttgarter Schleyerhalle gewiss nicht hinterher. Dafür liefern sie am Samstagabend zur ohrenbetäubenden Bühnenböllerei ein knallendes Hitfeuerwerk mit den alten Klassikern – und das Publikum jubelt.
Stuttgart - Wenn man’s dann endlich geschafft hat, mit 65 oder auch erst 67 Jahren, bricht doch eigentlich die geruhsame Zeit an. Der Rentenbescheid kommt in den Aktenordner, und ab geht’s zum Riesenschach in den Stadtgarten, zum Bingo-Nachmittag oder für acht Wochen nach Madeira. Tausende tolle Pläne könnte man für den Lebensabend schmieden, nur auf eine Idee käme gewiss kein einziger reiferer Herr: grotesk geschminkt auf zwanzig Zentimeter hohen Plateauschuhen durch die Gegend zu stelzen, dazu Spandexhosen zu tragen sowie wahlweise ein bauchfreies Top oder ein ledernes Fledermaus-Cape, und sich eine schwarz-rot-golden getünchte Gitarre oder alternativ eine Bassgitarre in Hackebeilform umzuschnallen.
Die Herren Paul Stanley und Gene Simmons hingegen, 65 und 67 Jahre alt, finden diese Idee offenbar nach wie vor sehr bestechend und nichts dabei, ihren Lebensabend haargenau so zu verbringen. Sie haben ja auch nichts anderes gelernt. Okay, ganz früher mal, Ende der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, hießen sie noch Stanley Eisen und Eugene Klein und arbeiteten in New York als Taxifahrer und als Redaktionsassistent bei einer Frauenzeitschrift. Eigentlich wollten sie aber schon immer Musiker werden, und den Traum haben sich die beiden Gründer der Band Kiss dann auch erfüllt. Und zwar ganz schön erfolgreich.
Es knattert, knallt und flammt
44 Jahre nach ihrem ersten Auftritt vor drei zahlenden Zuschauern stehen die beiden noch immer in ihren langjährig bewährten Outfits auf der Bühne, diesmal in der mit 12 500 Zuschauern erwartungsgemäß seit Wochen ausverkauften Stuttgarter Schleyerhalle. Mit dabei haben sie ihren Gitarristen Tommy Thayer und ihren Schlagzeuger Eric Singer, ein amtlich überdimensioniertes Bühnenbild, eine fette Lightshow sowie offenbar einen ganzen Truck voller Pyrotechnik. Eindreiviertel Stunden lang knattert und knallt und flammt es durch eine Arena, in der es am Ende riecht wie im Versuchslabor einer chinesischen Böllerfabrik. Damit alles hinreichend überkandidelt gerät, schweben zwischendurch der zudem noch feuerspuckende Simmons über die Bühne und später Stanley durch die Halle. Zur musikalischen Umrahmung all dessen wird, nun ja, Hardrock der altbackensten Sorte kredenzt.
Wer sich jetzt allerdings bereits schamvoll von der weiteren Beschreibung all dessen abwenden möchte, dem sei noch eben hinterhergerufen, dass das Ganze verblüffender Weise überhaupt nicht peinlich, sondern auf eine im besten Wortsinne amüsante Weise höchst unterhaltsam gerät. Sowie, noch erstaunlicher, sogar zum Nachdenken animiert. Über Stanley etwa, den Sohn einer deutschen Mutter und eines polnischen Vaters, der gewiss nicht zum Zweck der Anbiederung (die Band, eine der weltweit prominentesten und kommerziell erfolgreichsten, hat Geld wie Heu) seine schwarz-rot-goldene Gitarre umgeschnallt hat. Über Simmons, den Sohn ungarisch-jüdischer Eltern, die gerade so eben den Holocaust überlebten, der sich nun neben seinem Freund mit der Deutschlandgitarre mit diabolischen Gesten und kunstbluttriefenden Lefzen inszeniert. Oder über eine Hardrockband, die im vergangenen Jahr aus Angst vor Terroranschlägen und drohendem Krieg ihre Europatournee abgesagt hatte - und die nun zufälligerweise am gleichen Abend, an dem ausgerechnet in der Ukraine der Eurovision Song Contest über die Bühne geht, auf der Bühne der Schleyerhalle ebenfalls die Botschaft verbreitet, dass Musik und Politik zweierlei Paar Schuhe sein können.
Gott hat ihnen den Rock’n’Roll gegeben
Aber genug der philosophischen Überhöhung, zurück zum hedonistischen und reinrassigen Retro-Charme, der diesem Konzert die Würze verleiht. Hier gibt sich niemand irgendwelchen Moden hin, hier rennt niemand dem Zeitgeist hinterher oder orientiert sich an Marketinggesichtspunkten. Hier gibt’s nur Schminkepunkte im Gesicht, Kunstnebelorgien, das gute alte Gitarrensolo und das am Kabel im Kreis geschlenkerte Mikrofon. Und hier gibt’s zur ohrenbetäubenden Bühnenböllerei auch das Hitfeuerwerk mit all den alten Klassikern einer Band, der man eh nur deshalb glaubt, weil man es besser weiß, dass sie in den letzten zwanzig Jahren überhaupt Alben veröffentlicht hat. „Say Yeah“ und „Psycho Circus“ heißen die beiden 2009 und 1998 herausgekommenen Songs, die zum Beweis dessen in der Schleyerhalle gespielt werden. Der Rest sind Kracher der alten Schule wie „Lick it up“, „Rock’n’Roll all night“, „Deuce“ und „Black Diamond“ (beide vom Debütalbum, 1974!) sowie – zum Abschluss der kleinen Zugabe - „Detroit Rock City“, alles euphorisch von einem so enthusiastischen wie treuen Publikum umjubelt.
Zum Auftakt dieser Zugabe kommt, was irgendwann im Konzertverlauf natürlich kommen musste: der untypischste aller Kiss-Songs, der zugleich ihr mit Abstand bekanntester ist, „I was made for loving you“. Wehmütig schweift der Blick noch mal zur Discokugel an der Hallendecke, kurz kann man da an Stanleys Singstimme hören, dass er diesen Job wohl nicht mehr ewig ausüben können wird. Umgekehrt sieht man neun Jahre nach ihrem letzten Gastspiel auf der Bühne der Schleyerhalle vier Männer Mitte Sechzig, die in den Körpern Zwanzigjähriger zu stecken scheinen, einen schweigsamen doch agilen Simmons und einen so leut- wie redseligen Stanley, die mit der nach wie vor sehr umtriebigen Band Kiss einen Konzertabend hinlegen, der die Bezeichnung Show fraglos verdient.
Trotzig baumeln am Ende ein paar widerspenstige Reste der zuvor ins Publikum geschossenen Luftschlangen von den Lichttraversen an der Hallendecke, sinnbildlich dort verfangen wie ein letzter Gruß der Gaukelei an den Ernst des Lebens draußen vor den Hallentoren. Als Rausschmeißer erklingt Musik vom Band. Von Kiss, bezeichnenderweise: „God gave Rock’n’Roll to you“. Das hat dieser Gott gut gemacht.