Die Brüdergemeinde sieht sich mit einer Millionenforderung eines ehemaligen Heimkindes konfrontiert. Schwere Vorwürfe stehen im Raum, der Fall bewegt die Menschen. Eine Bestandsaufnahme.

Korntal-Münchingen - Was ist wahr, was überzogen dargestellt, was verharmlost? Fakt ist: die Schilderungen dessen, was von 1963 bis 1977 in einem Kinderheim der evangelischen Brüdergemeinde in Korntal passiert ist, können gegensätzlicher nicht sein. Detlev Zander berichtet von sexuellem Missbrauch, Prügelorgien und Zwangsarbeit und verklagt die Brüdergemeinde auf 1,1 Millionen Euro Schadenersatz. Die Brüdergemeinde ihrerseits zweifelt an Zanders Glaubwürdigkeit (siehe unten stehende Artikel).

 

Ganz gleich was passiert ist: das „heilige Korntal“ ist in den Schlagzeilen. Und während Detlev Zander mit medialer Präsenz und zunehmender Unterstützung seine Wahrheit verbreitet, nimmt die Brüdergemeinde in Kauf, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung in die Defensive zu geraten. Denn inzwischen hat sich der Verein Opferhilfe Korntal gegründet, weitere Heimkinder stützen Zanders Schilderungen, und es steht eine weitere Forderung von 120 000 Euro gegen die Gemeinde im Raum.

Der Stuttgarter Rechtsanwalt Martin Hirschmüller vertritt die Brüdergemeinde, seitdem bekannt ist, dass Zander klagen will. „Ich halte es für falsch, den Fall öffentlich über die Presse auszutragen“, sagt er. Zu Beginn der juristischen Auseinandersetzung im Herbst 2013 habe Zanders Anwalt Christian Sailer der Brüdergemeinde nicht ausreichend Zeit gewährt, die Vorwürfe zu prüfen. Stattdessen sei ihr gedroht worden: Sollte sie das Schuldanerkenntnis über ursprünglich 1,3 Millionen Euro nicht unterzeichnen, lasse sich eine „öffentliche Auseinandersetzung nicht vermeiden“, sagt Hirschmüller.

Den Widerspruch gegen die von Zander beantragte Prozesskostenhilfe begründet er mit einer verfahrenstechnischen Notwendigkeit. „Es geht nicht darum, irgendwelche Ansprüche zu verweigern.“ Doch den Antrag widerspruchslos hinzunehmen, würde bedeuten, der Klage „hinreichende Erfolgsaussichten“ einzuräumen. Das sei schon deshalb nicht möglich, weil die Gemeinde als Heimbetreiberin auch eine Verantwortung gegenüber den Angehörigen ihrer früheren, nun beschuldigten Beschäftigten habe. Das Landgericht Stuttgart will bis Mitte August entscheiden, ob – und wenn ja, in welcher Höhe – der Staat die Prozesskosten trägt. Bringt Zander diese nicht wenigstens anteilig vorab auf, würde das Gericht gar nicht erst tätig. Konkret geht es um die Anwaltskosten, die bei diesem Streitwert rund 15 000 Euro betragen.

Zanders Ansprüche sind laut Hirschmüller aber schon 2013 verjährt. Der Anwalt der Gegenseite lässt das nicht gelten. Die Brüdergemeinde hatte schließlich im Juni 2013 nach Gesprächen mit Zander auf dessen Bitte hin in einem Brief um Vergebung für das gebeten, was er erlebt habe. „Wenn das Landgericht das als Schuldanerkenntnis sieht, haben wir ein Problem“, sagt Hirschmüller.

Nachdem die Vorwürfe bekannt geworden waren, gründete die Brüdergemeinde eine Kommission zur Aufarbeitung der Erziehung in ihren Kinderheimen zwischen den 1940er und 70er Jahren. Unter den acht Mitgliedern sind der weltliche und der geistliche Vorsteher der Brüdergemeinde, Klaus Andersen und Jochen Hägele, sowie Ingrid Scholz vom Diakonischen Werk Württemberg. Zudem wollen die Korntaler die Akten künftig im Landeskirchlichen Archiv in Stuttgart lagern, „damit die Anfragen professionell und systematisch bearbeitet werden können“, sagt Andersen. „Die Verantwortung geben wir damit aber nicht weg“, stellt er klar. Unabhängig davon muss die Brüdergemeinde viel erklären. „Der Wille zur Aufarbeitung ist da“, urteilt der Bürgermeister Joachim Wolf. Er werde von vielen Kollegen angesprochen. „Ich denke, dass die Brüdergemeinde dem Anspruch an sich selbst, offen und transparent mit dem Thema umzugehen, gerecht wird.“ Er selbst sei bereits vor den ersten Medienberichten informiert worden.

Derweil werden die Kinder und Jugendlichen im Hoffmannhaus weiterhin betreut – selbst wenn die Brüdergemeinde Gefahr läuft, unter erschwerten Bedingungen zu arbeiten. Deren Sprecher, Manuel Liesenfeld, weiß dies: „Das kann allen diakonischen Einrichtungen passieren, die auf Spenden angewiesen sind.“

Die Sicht von Detlev Zander

Der Kläger - Es sind schwere Vorwürfe, die Detlev Zander gegen die Brüdergemeinde und drei ihrer ehemaligen Mitarbeiter erhebt. Die noch lebende Erzieherin habe ihn mehrfach auch an den Genitalien geschlagen und ihn unter anderem gezwungen, Erbrochenes zu essen. Die Brüdergemeinde entgegnet, dass er mit der Frau aber Jahre später noch freundschaftlichen Kontakt gehabt habe.

Zander berichtet zudem von Vergewaltigungen durch den Hausmeister, der sich nach Auskunft der Brüdergemeinde vor einigen Jahren umgebracht hat. Und der Heimleiter soll ihn zur Arbeit gezwungen haben – auf dem Feld und beim Bau seines Hauses nahe eines Ferienlagers im oberschwäbischen Wilhelmsdorf. „Die Brüdergemeinde wusste sehr wohl noch zu Lebzeiten, was der Heimleiter gemacht hat“, sagt Zander. Diese Erinnerungen habe er lange verdrängt, erst im vergangenen Jahr seien sie wieder aufgebrochen. Für diese Vorwürfe habe er Zeugen. Auch in Kommentaren zu Medienberichten und via Facebook melden sich Menschen, die das stützen.

Ihn ärgere es am meisten, wie „die Brüder“ mit seinem Fall umgehe. Beispielswiese die Verlegung der Akten – von denen er die Aussage eines anderen Heimkindes zitiert, sie lägen auf dem Boden – ins Landeskirchliche Archiv (LKA) nach Stuttgart-Möhringen. „Sie schieben die Akten nur weg. Für mich ist das unerträglich.“ Wenn nun ein Betroffener für den bundesweiten Fonds Heimerziehung – über den auch er Zahlungen erhalten hatte – eine Bestätigung über die Heimzeit brauche, würde das LKA an die Brüdergemeinde verweisen.

„Tausend Vorschläge“ habe er zur Aufarbeitung gemacht, sagt Zander, der selbst gern Mitglied der Kommission geworden wäre. Nach Gesprächen im Sommer, bei denen er eine „ehrliche Entschuldigung“ forderte – eines habe just in einem Raum stattgefunden, in dem er einst gequält worden sei – habe er immer mehr das Gefühl bekommen habe, nicht ernst genommen zu werden.

Hilfe bekommt Zander unter anderem von dem neu gegründeten Verein Opferhilfe Korntal. Dessen Initiator ist Peter Meincke. „Ich habe den Eindruck gewonnen, dass die menschliche Seite auf der Strecke bleibt“, sagt der Musikschulleiter. Er will der Ansprechpartner für Betroffene sein. Der Verein könnte auch anderweitig noch eine Rolle spielen: Wenn die Prozesskostenhilfe verweigert werden sollte, will Zander trotzdem klagen – mit Hilfe von Spenden, die der Verein sammeln will.

Die Sicht der Brüdergemeinde

Die Beklagten - „Es drängt uns, an die Öffentlichkeit zu gehen“, sagt der weltliche Vorsteher Klaus Andersen. Doch das sei ein Spagat. Die juristische Aufarbeitung der Missbrauchsvorwürfe stehe ihrer moralischen Bewertung gegenüber. Thematisiert wird das in einer Stellungnahme in einem Magazin der Brüdergemeinde. Darin wird auf die 2013 gegründete Kommission zur Aufarbeitung der Heimerziehung verwiesen. Schon davor habe es aber Anfragen ehemaliger Heimkinder nach Akteneinsicht gegeben, 60 Stück waren es laut Andersen seit Februar 2012. Detlev Zander steche dabei deutlich heraus.

„Wir befassen uns kritisch mit Herrn Zander“, sagt der Anwalt Martin Hirschmüller. Die Forderung von aktuell 1,1 Millionen Euro Schmerzensgeld sei „außerhalb dessen, was deutsche Gerichte zusprechen“, sagt Hirschmüller. Von den Akten her ergebe sich zudem nicht, dass er korrekte Angaben gemacht habe. Speziell der Vorwurf der Zwangsarbeit „ist richtig Käse“, Feldarbeit sei damals üblich gewesen. Es habe mit „der Frage der Traumatisierung wenig zu tun“, dass Zander das Abitur nicht gemacht habe, wie dieser ursprünglich angegeben hatte. Man habe bereits mehrere Zeitzeugen gehört. Diese hätten von anderen Erfahrungen berichtet. Nach all den Jahren sei die Recherche schwierig. „Es war nicht alles Kinderhölle Korntal“, sagt Andersen mit Verweis auf einen Medienbericht. Mit heute sei die Situation nicht vergleichbar.

Doch wie stellt man heute den Schutz sicher? Alle Mitarbeiter müssen dem Landesjugendamt mit ihrer Qualifikation und erweitertem polizeilichen Führungszeugnis gemeldet werden, zudem überprüft die Aufsichtsbehörde jede Wohngruppe. Einmal im Jahr gibt es zudem ein Qualitätssicherungsgespräch, alle sechs Monate ein ähnliches Gespräch mit dem Landkreis, erklärt der Leiter der Jugendhilfe Korntal, Joachim Friz. Ebenfalls alle sechs Monate gibt es mit dem Kreis-Jugendamt ein Hilfeplangespräch für jedes Kind. Aktuell betreut die Jugendhilfe Korntal rund 400 Kinder und Jugendliche.

Speziell für die Opfer sexuellen Missbrauchs gibt es zudem eine Fachkraft und eine Checkliste. Diese lege fest, wie mit den gepeinigten Kindern umzugehen ist und wer wie informiert werden muss. Das gelte für alle, die mit ihnen zu tun hätten. Die Betroffenen bekämen zudem – wie alle anderen – einen Aufnahmeordner mit ihren Rechten und Telefonnummern, die sie im Notfall wählen und die sie sich auch selbst aussuchen könnten.