Die Regierung will die Massaker an Armeniern vor 100 Jahren nicht Völkermord nennen. Im Bundestag sehen das alle Fraktionen anders. Und Norbert Lammert erteilt der Regierung eine Lektion.

Berlin - Sechs Minuten dauert es, dann ist in der Gedenkstunde des Bundestags im Grunde alles gesagt. Der Opfer des Genozids an den Armeniern vor hundert Jahren wollen die Abgeordneten gedenken, und Bundestagspräsident Norbert Lammert nutzt seine Begrüßung zu jener Einordnung, die sich die Bundesregierung nicht zutraut. Völkermord, so Lammert, bezeichne den Versuch, eine „nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Der Definition folgt die unmissverständliche Schlussfolgerung: „Das, was mitten im Ersten Weltkrieg im Osmanischen Reich stattgefunden hat, unter den Augen der Weltöffentlichkeit, war ein Völkermord.“ Da klatschen alle im Parlament. Und auf den Zuschauerrängen applaudieren Angehörige der Opfergruppen. Erleichterung macht sich breit, als fühlte man sich befreit von Sprachschlingpflanzen der Diplomatie.

 

Lammert weiß, dass Kanzlerin Angela Merkel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier, die keinen Ärger mit der Türkei wollen und deshalb lieber von „schrecklichen Ereignissen sprechen“, diesen Moment als Demütigung empfinden müssen. Zumal Lammert nicht die einzige Autorität ist, die Merkel und Steinmeier duckmäuserisch aussehen lässt. Auch Bundespräsident Joachim Gauck ließ am Vorabend bei einer Gedenkrede im Berliner Dom keine Mehrdeutigkeiten zu.

Lammerts Auftritt ist so schmerzhaft, weil Merkel und Steinmeier dabei zugegen sind wie Schüler einer bitteren Lehrstunde. Die Lektion, die Lammert erteilt, könnte die Überschrift tragen: „Wie eine Regierung besser nicht mit frei gewählten Abgeordneten umgeht“. Er eilt damit vielen in Union und SPD zu Hilfe, die so deutlich sein wollen wie er. Die Bundesregierung hatte aber in den vergangenen Wochen keine Mühen gescheut, eben dies zu verhindern. Ein Antragsentwurf der Koalition, erarbeitet mit Vertretern der Opposition, lag vor, in dem der Völkermord auch Völkermord genannt wurde. Aber Kanzler- und Außenamt intervenierten bei den Fraktionsspitzen, ließen das Wort streichen.

Lammert übersetzt Kompromis ins Deutsche

Gauck war es, der die Bundesregierung zwang, klein beizugeben. In vertraulichen Gesprächen am Wochenende hatte das Präsidialamt verdeutlicht, wie sehr sich Regierung und Parlament blamieren würden, wenn Gauck von Völkermord spräche, die Koalitionäre am Rednerpult aber in ihre Maulkörbe knurren müssten. Heraus kam ein Kompromiss: Das Schicksal der Armenier, so heißt es nun, stehe „beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde, von denen das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist.“ In Lammert wuchs daraufhin offenbar das Verlangen, diesen Satz ins Deutsche zu übersetzen.

Wie schon zuvor der Bundespräsident, spricht auch Lammert im Bundestag von deutscher „Mitschuld“, weil das Deutsche Reich die Gräueltaten des Weltkriegsverbündeten billigend in Kauf nahm. Auch deshalb warnt Lammert davor, der Türkei als Schulmeister gegenüberzutreten: „Wir Deutsche haben niemanden über den Umgang mit seiner Vergangenheit zu belehren, aber wir können durch unsere eigenen Erfahrungen andere ermutigen, sich ihrer Geschichte zu stellen“. Die heutige Regierung in der Türkei, so Lammert weiter, sei gewiss „nicht verantwortlich für das, was vor 100 Jahren geschah.“ Sehr wohl sei sie aber „mitverantwortlich für das, was daraus gemacht wird.“

Der Parteichef der Grünen, Cem Özdemir, türkischer Herkunft und mit Herz bei der Sache, macht wenig später aus seiner Dankbarkeit keinen Hehl. Erst lobt er Gauck für diese „gewisse Portion Unbeirrbarkeit, für die wir ihn schätzen und lieben“. Dann wendet er sich Lammert zu: „Das gilt natürlich genauso auch für Sie, Herr Bundestagspräsident.“ Nicht aber gelte dieses Lob für die Bundesregierung, sagt Özdemir. Denn ohne Gaucks Intervention würden Koalition und Regierung „bis heute das türkische Narrativ wiederholen“.

Steinmeier will nicht „übers Stöckchen springen“

Der CDU-Abgeordnete Christoph Bergner urteilt ähnlich hart: „Die Berechtigung der Zurückhaltung endet dort, wo semantische Zurückhaltung zu faktischer Verharmlosung und Relativierung führt“. Bergners Parteifreund Norbert Röttgen sagt, Abwägung sei zwar ein Wesensmerkmal der Demokratie, „aber bei Völkermord hört die Abwägung auf“. Dietmar Nietan (SPD) zitiert den Holocaust-Überlebenden Elie Wiesel: „Wer sich dazu herbeilässt, die Erinnerung an die Opfer zu verdunkeln, der tötet sie ein zweites Mal.“

Im Parlament schweigt Steinmeier. Dafür spricht er mit dem „Spiegel“. In dem Magazin verteidigt er seine Haltung: „Ich bin Debatten leid, bei denen erwartet wird, dass ich über ein mir hingehaltenes Stöckchen springen soll, obwohl doch alle wissen, die Fragenden wie die Antwortenden, dass komplexe Erinnerungen selten auf einen Begriff zu bringen sind.“ Er warne auch vor einer Relativierung des Holocaust. Dies helfe nicht, Armenier und Türken zu versöhnen.

Vielleicht ist es ja ganz gut, dass Steinmeier das nicht im Bundestag gesagt hat. Geklatscht hätte jedenfalls keiner.