Er war FDP-Chef, Justizminister, Außenminister und Vizekanzler: Seit elf Jahren ist Klaus Kinkel raus aus dem Politgeschäft. Abhaken kann er die alten Zeiten trotzdem nicht ganz.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Bonn/Hechingen - Die Operation Stiller war eine der letzten Großaktionen des Kalten Kriegs auf deutschem Boden. Am 18. Januar 1979 wechselte der Stasioberleutnant Werner Stiller, Agentenführer der Hauptverwaltung Aufklärung, die Seiten. Für die Flucht benutzte „der Schakal“ Blankopapiere seiner Dienststelle, mit denen er am Bahnhof Friedrichstraße unbehelligt zur Westberliner U-Bahnlinie 6 gelangte. Er hatte 20 000 Geheimdokumente bei sich, größtenteils auf Mikrofilm kopiert. Seine Geliebte schleuste der Bundesnachrichtendienst zeitgleich über die Botschaft in Warschau raus, Ehefrau und Tochter blieben hinter dem Eisernen Vorhang zurück.

 

Für den BND war die Aktion ein Triumph, auch weil sie dem Apparat des Markus Wolf die Aura der Unverwundbarkeit nahm. Ironie der Geschichte, dass sich damals an den Schalthebeln der deutschen Auslandsgeheimdienste zwei Arztsöhne gegenübersaßen, die am Obertorplatz im kleinen Hechingen am Rand der Schwäbischen Alb aufgewachsen waren. Auf der einen Seite: der DDR-Oberspion Markus „Mischa“ Wolf, Jahrgang 1923. Auf der anderen Seite: Klaus Kinkel, 13 Jahre jünger und Chef der Geheimbehörde im bayerischen Pullach mit Tausenden von Mitarbeitern, Agenten, Spitzeln. Beide haben nie ein Wort miteinander gewechselt. Sie sind sich nur ein einziges Mal begegnet: nach dem Mauerfall, vor Gericht, mit klarer Rollenverteilung. Der eine kam als Angeklagter, der andere als Zeuge.

Klaus Kinkel lebt noch in seiner Bonner Festung mit Kameras und gepanzerten Fenstern aus der Zeit, als für ihn höchste Sicherheitsstufe galt. An diesem Morgen sitzt der 76-jährige Pensionär ein paar Kilometer entfernt in seinem geräumigen Büro der Telekomstiftung. Er kommt fast täglich rein. Als ehrenamtlicher Vorsitzender will er mit Frühförderung in Grundschulen oder der „Junior-Ingenieur-Akademie“ die Bildung in den Mint-Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik voranbringen. An der mangle es nämlich vor allem in Deutschland, sagt er. Alle Kinder sollten die gleichen Startchancen haben wie seine sechs Enkel.

Seit elf Jahren raus aus dem Polit-Geschäft

Im Regal stehen Familienfotos. An der Wand: ein Porträt von Heuss, filigrane chinesische Gemälde, die er geschenkt bekam, als sich Hongkong 1997 von den Briten verabschiedete. Daneben ein Urlaubsfoto: schwarzer Hund am weißen Strand. „Das ist Jago. Auf dem Bild sieht man gar nicht richtig, was für ein schöner Kerle das ist.“ Kinkel trägt einen bequemen Pullover über dem Hemd. Er schwäbelt ungemein, nachdem er sich versichert hat, dass sein Gegenüber die Sprache versteht. Der Teppichboden um seinen Schreibtisch ist übersät mit Zeitungen und kopierten Artikeln, die er noch durcharbeiten will. Immer mit der Ruhe – Kinkel kann sich zurücklehnen. Er ist raus aus dem Geschäft. Seit elf Jahren versucht er, seinen Enkeln zurückzugeben, was seine Kinder immer schmerzlich vermissten: gemeinsame Zeit.

„Ich war geschlaucht am Ende meiner Karriere“, sagt Kinkel. Als Justizminister hat er sich „am meisten zu Hause“ gefühlt. Der FDP-Vorsitz sei „ein großer Fehler“ gewesen. „Ich war nicht der richtige Parteimann.“ 1994, auf dem Parteitag in Gera, fielen die Liberalen regelrecht über ihren Anführer her, der es nicht geschafft hatte, die FDP aus ihrer Identitätskrise zu führen – kommt einem irgendwie bekannt vor. Als Vizekanzler und Außenminister spulte Kinkel 450 Auslandsreisen in 100 Länder runter, forderte vor der UN-Vollversammlung einen Sitz im Sicherheitsrat, gab in der Türkei den Opfern von Mölln das letzte Geleit, führte in China einen „nichtkonfrontativen Dialog“, was man ihm als Leisetreterei auslegte. „Manchmal wusste ich nicht mehr, in welchem Land ich gerade bin“, sagt er. „Zum Glück habe ich alles psychisch und physisch gut überstanden.“

Es ist nicht alles abgehakt. Vor Kurzem hat er noch mal die Akten von Winfried Baumann, dem „Roten Admiral“, studiert, für dessen tragisches Ende er sich mitverantwortlich fühlt. Der DDR-Militär bezahlte seine Kontakte zum BND mit dem Leben. Kinkel hatte versucht, ihn rauszuschleusen. Baumann wurde dabei gefasst und später durch einen Genickschuss hingerichtet.

Für dieses Jahr hat Kinkel eine Bosnienreise geplant. Der Balkankrieg und Srebrenica: auch so ein Horror, der noch nicht vergessen ist. Beim Gedanken an Milosevic, an Mladic und Karadzic, die jetzt beide in Den Haag vor Gericht stehen, könne ihn heute noch die blanke Wut packen, sagt er. „Mladic bin ich nie begegnet, Karadzic habe ich den Handschlag verweigert, Milosevic musste ich aus diplomatischen Gründen leider begrüßen.“

Heimat Hohenzollern

Wie tickt Kinkel? Sein Vater ein Westfale – „eckig, schwierig, gütig, hundertprozentig verantwortungsbewusst“. Die Mutter eine Schwäbin – „lebhaft und lebenstüchtig“. Ein gut situiertes Elternhaus, das ihm schon früh das Gefühl einer inneren Unabhängigkeit schenkt. In Tübingen schließt sich der junge Jurastudent der katholischen Verbindung Guestfalia an – wie schon der Vater und der Großvater, wie Claus Kleber, Wolfgang Schuster oder einst Eugen Bolz, der letzte württembergische Staatspräsident. Später, bei Familienausflügen von Bonn ins heimatliche Hechingen stimmt Kinkel im Auto gern das Hohenzollernlied an, und die vier Kinder singen mit.

Er sei ungestüm bis cholerisch, empfindsam bis zur Empfindlichkeit, ausdauernd bis zur Sturheit, sagt man über ihn. Er ist ein Rabauke. Seine Lieblingsgestalt in der Geschichte ist der Alte Fritz (vom Geschlecht der Hohenzollern). Er kann mit Lyrik nichts anfangen, sagt er über sich. Die Presse sah ihn meist wohlwollend, nannte ihn „Prototyp des politischen Könners“ („Die Zeit“), „Phänotyp des Politikers, mit dem man Pferde stehlen mag“ (SZ), „einen seriösen, tüchtigen Beamten, dem die Begabung zum mitreißenden Parteiführer fehlte, auch weil ihm Schaumschlägerei und Intrigantentum fremd waren“ (FAZ).

Zu Beginn des Gesprächs gibt er sich hemdsärmelig und abwartend. Erzählt dann aber immer offener. So offen, dass er jeden dritten Satz mit „das können Sie auf keinen Fall schreiben“ abrundet. Eigentlich habe er ein schlechtes Gedächtnis, sagt er. Aber nicht, wenn er in Erzähllaune ist. Er kommt von Philipp Rösler zu Ali Akbar Velayati, den früheren Außenminister des Iran, von Hillary Clinton zu Baby Jetter, den besten Nachkriegskicker in Hechingen. Und wenn er mal richtig in Fahrt ist, kann er sich aufregen und schimpfen, auf den Tisch hauen und laut werden, als säße er auf der Bühne des Melchinger Lindenhoftheaters.

1959, an einem der „vielen traumseligen Abende“ mit Freunden im Tennishäuschen hinter der Hechinger Villa Silberburg, hat sich Klaus Kinkel mit Ursula, geborene Vogel, verlobt. Heute sind sie 51 Jahre verheiratet. Gerne hätte er sich mit ihr in der Heimat niedergelassen. 1966 kandidierte er bei der Bürgermeisterwahl seiner Stadt und erlebte seine vielleicht größte Niederlage. Trotzdem legte er noch eine ordentliche Karriere hin: 1970 machte Innenminister Genscher den Beamten zum persönlichen Referenten, nahm ihn dann ins Außenministerium mit. Kinkel war der Macher im Hintergrund. Einer der wenigen, die Genschers Arbeitstempo spielend mitgehen konnten, heißt es. Bis heute sind sie eng verbunden.

Er schreibt mit am deutschen Einigungsvertrag

1998, nach der Wahlniederlage, musste Kinkel den Platz auf der Regierungsbank räumen. 2002 verließ er die politische Bühne. Er hat bei der Ausarbeitung des Einigungsvertrags deutsche Geschichte mitgeschrieben. Er hat als BND-Chef Terroristen im Irak gesucht, später als Justizminister ausstiegswilligen RAF-Leuten die Hand gereicht. Er hat als Außenminister in der schwierigen Zeit der Nato-Osterweiterung beim russischen Amtskollegen Primakow um Vertrauen in die deutsche Politik geworben und für ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem. Wie Kinkel war Primakow zunächst Geheimdienstchef gewesen. Bei der ersten gemeinsamen Pressekonferenz grummelte er widerborstig: den Kinkel kenne er schon lange – aus den KGB-Akten. „Jewgeni, das war die alte UdSSR“, sagt Kinkel. Später sind sie Freunde geworden, auch weil beide den gleichen familiären Schicksalsschlag erlitten hatten. Die Frauen verstanden sich genauso gut. Jedes Telefonat endete mit „Grüße an Uschi von Irina“. Überhaupt habe unter den Außenministern ein Korpsgefühl geherrscht, „ich wüsste keinen Einzigen, der mich beschissen hätte“. Damals habe der deutsche Außenminister noch mehr Macht gehabt als heute. „Der Kohl ließ mich machen.“

Gegen die Massaker in Burundi und Ruanda konnte Kinkel nichts machen. Er hat die Zustände im Zentralgefängnis von Kigali erlebt: Tausende von Misshandelten, Vergewaltigten, zusammengepfercht wie Tiere, der Boden knöchelhoch mit Kot bedeckt: „Furrrchtbar!“ Er war in der Kirche von Nyarubuye, wo zweitausend mit Macheten, Nagelkeulen und Äxten abgeschlachtete Menschen lagen: „Furrrchtbar.“ Diese Bilder kriegt er nicht aus dem Kopf. „Und wir waren nicht in der Lage, es zu verhindern, weil die UN sich nicht entschließen konnten – wie heute in Syrien.“

Er habe schon den alten Assad gekannt, „die stundenlangen Gespräche werde ich niemals vergessen“. Wenn Kinkel heute TV-Bilder aus dem Felsenpalast sieht, kommt ihm alles seltsam vertraut vor, „sogar noch die gleichen Stühle wie früher“. Die Jahre sind wie im Flug vergangen. In seiner Erinnerung hält er sie fest, die schlimmen wie die schönen Momente. Die Begegnungen mit Staatsmännern wie Yitzhak Rabin. Mit Hechingern wie seinem Schulkameraden Wilhelm Leiter, der bei der Fronleichnamsprozession immer die große Fahne tragen durfte, während für Klaus nur die kleine blieb. Else Gilles, die auf der Suche nach Gartendünger jedem Pferdeapfel nachjagte. Hatte sie ihr Schäufele grad nicht zur Hand, hinterließ sie halt einen Zettel am Haufen: „Reserviert für Gilles“. Oder Bauer Lenzen, dem es, ein echter Schwabe eben, selbst auf dem Totenbett noch nach einem Zibebenmost verlangte. Seine Frau Marie sah das ganz nüchtern: „Jetzt hat sich’s auszibebelet, jetzt wird gstorba.“