Kleines Einmaleins des deutschen Wahlrechts Wie aus Stimmen Sitze werden

Im Plenarsaal des Bundestags gibt es künftig nur noch Platz für 630 Abgeordnete. Foto: dpa/Michael Kappeler

Bei der Bundestagswahl am übernächsten Sonntag gelten neue Regeln. Für die Wähler ändert sich wenig, für die Parteien jedoch einiges. Das kleine Einmaleins der Demokratie beim Umrechnen von Stimmen in Parlamentssitze ist kompliziert.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Demokratie kann sehr einfach sein: Zwei Kreuze genügen, um mitzubestimmen, wer im nächsten Bundestag das Sagen hat. Schwieriger wird es, die Summe der Kreuze in Parlamentssitze umzurechnen. Für die Wahl am 23. Februar gelten erstmals die neuen Regeln des im März 2024 geänderten Bundeswahlgesetzes. Die bedeuten eine Schrumpfkur für den Bundestag. Dort gibt es künftig nur noch Platz für 630 Volksvertreter. Bisher waren es 103 mehr. Ursprünglich war das Plenum nur für 598 Abgeordnete gedacht.

 
59,2 Millionen Deutsche sind wahlberechtigt. Foto: dpa/Michael Kappeler

Wer darf wählen?

Wahlberechtigt sind alle deutschen Staatsbürger, die am Tag der Wahl ihr 18. Lebensjahr vollendet und seit mindestens drei Monaten in der Bundesrepublik ihren Wohnsitz haben. Deutsche, die im Ausland leben, dürfen ebenfalls wählen, wenn sie lange genug hier zuhause waren sowie „persönlich und unmittelbar Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland erworben haben“, so das Bundeswahlgesetz.

Insgesamt sind 59,2 Millionen Menschen zur Wahl aufgerufen. Frauen haben unter ihnen eine klare Mehrheit: Laut Statistischem Bundesamt gibt es zwei Millionen mehr weibliche als männliche Wahlberechtigte. Zur Wahl berechtigt sind 2,3 Millionen potenzielle Erstwähler, die seit der letzten Bundestagswahl volljährig geworden sind. 42,1 Prozent des Wahlvolks sind älter als 60, nur 13,3 Prozent unter 30.

Wählen ist kinderleicht: Es reichen zwei Kreuze. Foto: Archiv

Wie wird gewählt?

Jeder hat zwei Stimmen: Mit der Erststimme wird ein Kandidat im eigenen Wahlkreis gewählt, mit der Zweitstimme eine Partei. Die Erststimmen entscheiden darüber, wer die eigene Stadt oder den Kreis, in dem die jeweiligen Wählerinnen und Wähler wohnen, im Parlament vertreten soll. Deutschland ist in 299 Wahlkreise aufgeteilt, die jeweils etwa 250 000 Menschen umfassen. Die Zweitstimmen entscheiden über die Zusammensetzung des Bundestags.

Inzwischen sollten alle Wahlberechtigten eine Wahlbenachrichtigung erhalten haben. Diese bestätigt, dass sie im Wählerverzeichnis eingetragen sind. Sie enthält zudem Angaben zum Ort und den Öffnungszeiten des Wahllokals, und ob dieser barrierefrei erreichbar ist.

Die Wahlbenachrichtigung sowie ein Personalausweis oder Reisepass werden im Wahllokal benötigt, um nachzuweisen, dass man dort wahlberechtigt ist. Wer am Wahltag selbst verhindert ist, kann Briefwahlunterlagen beantragen, sollte seinen Wahlbrief zeitig mit der Post abschicken oder direkt bei der Wahlbehörde abgeben. Er muss dort spätestens am Wahlsonntag bis 18 Uhr vorliegen. Ansonsten sind die Stimmen ungültig. Das Risiko trägt jeder selbst.

Unter besonderem Zeitdruck stehen Wahlberechtigte im Ausland. Ihre Wahlbriefe sind in der Regel länger unterwegs, die Dauer des Transports lässt sich nicht verlässlich kalkulieren. Zwischen dem Erhalt der Wahlunterlagen und dem Abgabetermin für die Wahlbriefe liegen oft nur kurze Fristen. Das halten Verfassungsjuristen für rechtlich problematisch. Einige deutsche Botschaften und Konsulate bieten zwar einen Kurierservice an. Der ist aber womöglich nicht schneller als der Postweg. Bei der Wahl 2021 hatten sich Medienberichten zufolge 130 000 im Ausland lebende Deutsche ins Wählerverzeichnis eingetragen. Davon lebten 110 000 in Europa.

Der Rechtswissenschaftler Ulrich Battis hält die Schwierigkeiten der Wähler im Ausland für heikel. Das gilt insbesondere für den Fall, dass die Wahl knapp ausgeht. Es gehe um „den höchsten Grundsatz des Wählens: die Allgemeinheit der Wahl“, sagt Battis und erwartet, dass am Ende „das Bundesverfassungsgericht über die Rechtmäßigkeit der Wahl entscheiden muss.“

Leicht ist es, die Stimmen zu zählen – schwieriger wird es, sie in Mandate umzurechnen. Foto: dpa/Sebastian Gollnow

Wie werden aus Stimmen Sitze?

Die Umrechnung der Wählerstimmen in Parlamentsmandate erfolgt in mehreren Schritten. Zunächst wird die nunmehr auf 630 begrenzte Zahl der Plätze im Bundestag anhand der für die Parteien abgegebenen Zweitstimmen verteilt. Das nennt sich „Oberverteilung“.

Berücksichtigt werden dabei Parteien, die mindestens fünf Prozent der gültigen Stimmen erhalten. Eine Ausnahme gibt es, wenn eine Partei bundesweit zwar unter fünf Prozent liegt, aber mindestens in drei Wahlkreisen gewinnt. Dann werden ihr neben den Direktmandaten auch Mandate entsprechend ihrer Zweitstimmen zugeteilt.

In einem zweiten Schritt werden die in der „Oberverteilung“ ermittelten Sitze der Parteien den jeweiligen Landeslisten zugewiesen, je nachdem, wie viele Zweitstimmen die Parteien in den einzelnen Bundesländern erzielt haben. Das nennt sich „Unterverteilung“.

In den Wahlkreisen entscheidet die Erststimme. Aber nicht alle Stimmenkönige vor Ort erhalten auch einen Sitz im Bundestag. Im Bundeswahlgesetz ist von „Zweitstimmendeckung“ die Rede. Das heißt: Wenn eine Partei mehr Wahlkreise gewonnen hat, als ihr nach den Zweitstimmen Sitze zustehen würden, dann kommen nur die direkt gewählten Wahlkreiskandidaten mit dem besten Stimmenergebnis zum Zuge.

Zu diesem Zweck wird eine Rangliste gebildet. Wer mit einem relativ schwachen Ergebnis seinen Wahlkreis gewinnt, hat unter Umständen das Nachsehen. Wahlkreiskandidaten treten demnach nicht nur gegen Konkurrenten von anderen Parteien an, sondern auch gegen die Kollegen der eigenen Partei.

Das Wahlrecht wurde entsprechend geändert, um sogenannte Überhangmandate zu vermeiden. Sie entstehen dann, wenn es ein Missverhältnis zwischen Erst- und Zweitstimmen gibt. Bisher hatten direkt gewählte Wahlkreiskandidaten auf jeden Fall ein Mandat erhalten. Damit das durch die Zweitstimmen festgelegte Kräfteverhältnis der Parteien im Bundestag gewahrt bleibt, wurden Überhangmandate durch Ausgleichsmandate für andere Parteien austariert. So kam es, dass der Deutsche Bundestag nicht aus 598 Abgeordneten besteht, wie es seit 1996 im Wahlgesetz stand, sondern zuletzt aus 733.

Aufgrund dieser Regelung wird taktisches Wählen schwierig. Bei Bundestagswahl 2021 haben zum Beispiel elf Prozent der Wähler, die mit ihrer Erststimme einen CDU-Kandidaten gewählt hatten, mit der Zweitstimme für die FDP gestimmt. Das könnte sich nun als riskant erweisen, da die Zweitstimme letztlich entscheidet, wie viele direkt gewählte Kandidaten ein Mandat erhalten. Dieses Risiko gilt für jede Art des Splittings der beiden Stimmen, egal welche Parteien davon betroffen sind.

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