Seit mehr als dreißig Jahren messen US-Forscher das Eis um den Nordpol herum, aber so wenig wie in diesem Jahr gab es noch nie. Die Experten aber, dass sich das arktische Eis noch weiter zurückziehen wird.

Ottawa - Die Arktis erlebt in diesem Sommer eine dramatische Eisschmelze. Es ist ein neuer Rekord, der die Befürchtungen der Wissenschaftler noch übertreffen dürfte. Erstmals seit Beginn der Satellitenmessungen vor gut dreißig Jahren ist die Eisfläche im Arktischen Ozean auf rund 4,1 Millionen Quadratkilometer gesunken, das teilt das Nationale Snow and Ice Data Center (NSIDC) im US-amerikanischen Boulder mit. Das bisherige Rekordtief von 2007 ist in diesem Jahr um rund 70 000 Quadratkilometer unterschritten worden, und das, obwohl die Eisschmelze noch nicht abgeschlossen ist.

 

Als Besorgnis erregend werten die Forscher, dass dieses Rekordtief eingetreten ist, obwohl der arktische Sommer in diesem Jahr nicht außergewöhnlich warm war. Bei der Rekordschmelze im Jahr 2007 sei dies anders gewesen: Damals sei ein sehr warmer Sommer vorausgegangen. Das zeige, dass sich das arktische Meereis inzwischen fundamental gewandelt habe. Ursache dafür sei der fortschreitende Klimawandel.

Noch zwei weitere Wochen schmelzt das Eis

„Die Schmelzsaison 2012 könnte noch mehrere Wochen andauern“, sagen Wissenschaftler des NSIDC. Noch etwa weitere zwei Wochen würde das Eis schmelzen, konkretisiert Experte Walt Meier die Aussage. Seiner Ansicht nach könnte die Eisfläche unter vier Millionen Quadratkilometer – und im schlimmsten Fall auf 3,5 Millionen Quadratkilometer – abschmelzen.

Arktisches Meereis folgt einem typischen Jahreszyklus, es friert und schmilzt. Im Winter friert das Nordpolarmeer nahezu vollständig zu und erreicht im März seine größte Ausdehnung. Ab dann beginnen sich Luft und Wasser wieder zu erwärmen und das Eis schmilzt. Als Folge nimmt die Eisfläche den Sommer über ab, bis sie Mitte bis Ende September ihr Minimum erreicht. Das Ausmaß der sommerlichen Schmelze variiere von Jahr zu Jahr, abhängig von den jeweiligen Wetterbedingungen, erklären die Forscher. In den letzten drei Jahrzehnten ist aber ein dramatischer Trend erkennbar: Die sommerliche Eisfläche, so die Forscher, sei seit 1979 um 13 Prozent geschrumpft. Das sei ein starkes Signal dafür, dass diese Eisschmelze eine Langzeitfolge des Klimawandels sei, betonen die Wissenschaftler.

Meist bildet sich in der zweiten Septemberhälfte neues Eis. Sollte dies aber erst Ende September geschehen, schließen Experten selbst weniger als drei Millionen Quadratkilometer nicht völlig aus. In den nächsten Wochen dürfte sich die Eisschmelze laut NSIDC aber verlangsamen. Derzeit liegt sie immer noch deutlich über der „normalen“ Rate von täglich 40 000 Quadratkilometern.

Arktische Ozean bestand zum Großteil aus Dauereis

Meier spricht von einem „ständigen Abwärtstrend“ der sommerlichen Eisfläche in den vergangenen dreißig Jahren. Ursprünglich bestand der Arktische Ozean zum Großteil aus Dauereis. Dieses drei bis vier Meter dicke Eis schmolz auch im Sommer nicht ab und blieb daher über mehrere Jahre erhalten. Nun dominiert saisonales, dünneres, nur ein bis zwei Meter dickes Eis die arktische Eisfläche – und schmilzt im Sommer daher immer stärker ab.

„Der Arktische Ozean ist ein anderer Ort, als er es früher einmal war“, sagt Meier. „Wir verlieren den dicken Teil der Eisdecke, das Eis wird im Sommer verwundbarer“, ergänzt Nasa-Forscher Joey Comiso, zuständig für die Satellitenbildauswertung am Goddard Space Flight Center der Nasa in Greenbelt. Anfang August brach ein heftiger Sturm die dünne Eisfläche auf. „Der gleiche Sturm hätte vor einigen Jahrzehnten wegen der damals vorherrschenden Eisdicke keine weit reichenden Folgen gehabt“, so Nasa-Wissenschaftlerin Claire Parkinson. Zurück blieb auseinandergebrochenes Eis, das leichter schmolz oder nach Süden getrieben wurde.

Bereits vor einigen Wochen hat Meereis-Experte Lars Kaleschke vom Klimacampus der Universität Hamburg für dieses Jahr ein neues Rekordtief vorhergesagt. Ausgehend von Satellitendaten und statistischen Berechnungen prognostiziert er für den September eine Meereisfläche von etwa 4,1 Millionen Quadratkilometern. Die aktuellen Messungen zeigen nun, dass die Schmelze noch stärker ausfällt als von Kaleschke geschätzt.

Das schmelzende Meereis sei „eine der sichtbarsten frühen Auswirkungen von Klimawandel“, sagt Clive Tesar von der Umweltschutzorganisation World Wide Fund For Natur (WWF). „Der Eisverlust beeinflusst das arktische Leben und das Leben der Menschen überall in der Welt.“ Der Greenpeace-Exekutivdirektor Kumi Naidoo sagt: „Unser Planet erwärmt sich in einer Rate, die die Zukunft von Milliarden von Menschen gefährdet.“ Die neuen Daten kämen nicht unerwartet. „Regierungen und Entscheidungsträger wissen seit Jahren um die Folgen von globaler Erwärmung.“