Warum wurde im 21. Jahrhundert so wenig gegen den Klimawandel unternommen?, werden sich künftige Historiker vielleicht einmal fragen. Gegenwärtige Historiker geben eine Antwort: weil sich die Wissenschaftler zu sehr zurückgehalten haben.

Stuttgart - Vor einem Jahr habe ich mit einem Stipendium zwei Monate am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte verbracht. Für die Wissenschaft ist das ziemlich kurz: in ihrer Zeitrechnung nur vier Institutskolloquien. Gerade als man glaubt, sich besser kennenzulernen, ist es schon wieder vorbei. Ist trotzdem etwas hängen geblieben? Mich hat die Haltung der Historiker zu ihrem Untersuchungsobjekt beeindruckt: Sie halten die Wissenschaft für ein bedeutendes, einmaliges Projekt, aber sie sehen es nicht als fertiges Produkt. Es hat im Laufe der Jahrhunderte unterschiedliche Arten gegeben, Wissenschaft zu betreiben, und auch heute ist nicht immer klar, wie man es am besten macht. Hier möchte ich ein Beispiel vorstellen, auf das ich in dem dünnen Büchlein „The Collapse of Western Civilization“ gestoßen bin.

 

In dem Buch – die Autoren sprechen von einem Essay – blickt ein Historiker aus dem 24. Jahrhundert auf das 21. Jahrhundert zurück und fragt, warum damals nicht mehr gegen den Klimawandel unternommen wurde. Die Prognosen der Klimaforscher, so der Ausgangspunkt des Buchs, haben sich mehr als bestätigt: Mit den Emissionen steigen die Temperaturen ungebremst, Menschen verlassen die vertrockneten und von Stürmen und Insektenplagen heimgesuchten Regionen. Die Permafrostböden tauen und geben zusätzliche Treibhausgase ab. Am Ende des 21. Jahrhunderts schmilzt der Westantarktische Eisschild in nur 20 Jahren und lässt den Meeresspiegel um fünf Meter ansteigen. Mehr als eine Milliarde Menschen sind auf der Flucht, eine Pest-Epidemie rafft die Hälfte der Menschheit hin. Die Menschen hätten das Risiko gekannt, schreibt der Historiker der Zukunft, und den Wandel daher sogar außergewöhnlich gut dokumentiert.

Die Autoren Naomi Oreskes und Erik Conway sind beide Wissenschaftshistoriker: sie an der Harvard University, er am California Institute of Technology. Sie sind vor einigen Jahren mit dem Buch „Merchants of Doubt“ bekannt geworden, das es nun auch in deutscher Übersetzung gibt. In dem Buch rekonstruierten sie, wie eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern in den USA über Jahrzehnte Zweifel an Forschungsergebnissen gesät hat. Erst versuchten sie, die Gefahren des Zigarettenrauchs herunterzuspielen, später dann die des Klimawandels. Ihr Argument lautete immer: Wissenschaft muss selbstkritisch sein, und in dieser selbstkritischen Haltung muss sie erkennen, dass sie noch nicht genug weiß. Kurz gesagt: lieber weiter forschen statt politisch handeln, oder fachlich ausgedrückt: Paralyse durch Analyse. Diese Wissenschaftler, so Oreskes und Conway, taten das vor allem aus der Überzeugung heraus, dass die freie Marktwirtschaft jeder politischen Regulierung überlegen ist.

Die Historiker beschreiben Wissenschaftler wie Mönche

In ihrem neuen Buch bin ich über die Aussage des Zukunfts-Historikers gestolpert, dass die Wissenschaftler des 21. Jahrhunderts ein Gelübde abgelegt hätten wie die Mönche im Mittelalter: immer streng mit sich selbst sein und ja keine politische Äußerung. Die Klimaforscher des 21. Jahrhunderts hätten sich zum Beispiel nicht getraut zu sagen, dass mit dem Temperaturanstieg Wirbelstürme häufiger würden. Sie hätten zwar nicht daran gezweifelt, weil sie die Entstehung der Stürme bei aufgewärmter Luft schon gut untersucht hatten, aber sie hätten die Statistik noch nicht als aussagekräftig genug eingeschätzt. „In einem fast kindischen Versuch, ihre wissenschaftliche Methode von anderen möglichen Erklärungsversuchen abzugrenzen, hatten Wissenschaftler den Eindruck, sie müssten sich und der Welt beweisen, wie streng ihre Standards sind“, schreibt der Historiker des 24. Jahrhunderts. Und ein paar Seiten weiter: „Die Wissenschaftler hielten einerseits politische Äußerungen für unangebracht (ebenso wie die emotionale Ansprache, die nötig wäre, um Dringlichkeit zu vermitteln) und glaubten andererseits, dass die Welt gegen die drohende Katastrophe vorgehen würde, wenn sie nur genügend überzeugende Belege vorbringen (und diese ruhig und verständlich vermitteln) würden.“

Hoppla, wollen Naomi Oreskes und Erik Conway damit sagen, dass es Wissenschaftler mal weniger genau nehmen sollten? Dass sie sich auch mit wackeligen Thesen lautstark an die Öffentlichkeit wenden sollten, obwohl sie damit ihre Glaubwürdigkeit untergraben könnten? Es ist nicht die einzige und auch nicht die wichtigste Erklärung dafür, warum die Menschheit beim Klimaschutz versagte, aber doch eine erstaunliche. Das Buch enthält auch ein Interview mit den Autoren, in denen sie genau das gefragt werden. Vielleicht müsse sie zu diesem Punkt ein weiteres Buch schreiben, antwortet Oreskes. Das hilft einem beim Verständnis nicht besonders, aber ein Blick in das ältere Buch „Merchants of Doubt“ bringt einen weiter. Im vierten Kapitel besprechen die Autoren an einem Beispiel, warum sie finden, dass der wissenschaftliche Fokus auf statistische Signifikanz nicht immer richtig ist. (Für Interessierte: Oreskes und Conway erzählen, wie versucht wurde, einen Bericht der US-amerikanischen Umweltbehörde EPA zu diskreditieren. Die Behörde hatte im Dezember 1992 festgestellt, dass Passivrauchen zu 3000 Todesfällen im Jahr führe. Sie hatte dabei eine Irrtumswahrscheinlichkeit von höchstens zehn Prozent zugrunde gelegt. Die Kritiker monierten, dass es höchstens fünf Prozent hätten sein dürfen.)

Im Kern geht es um die Frage, was einem in der Wissenschaft wichtiger ist: keinen Illusionen auf den Leim zu gehen oder keine realen Phänomene zu übersehen? Das eine anzustreben geht nur auf Kosten des anderen. Für einen Kommissar ist Letzteres wichtig: Er geht jeder Spur nach, auch wenn er dabei in manche Sackgasse gerät. Er will verhindern, dass man ihm später nachsagt, er habe den entscheidenden Hinweis übersehen. Vor Gericht ist es anders herum: Um das Risiko klein zu halten, einen Unschuldigen zu verurteilen, geht man lieber das Risiko ein, einen Täter aus Mangel an Beweisen freizusprechen. In der Statistik wird das Bestätigen einer Illusion „Fehler der 1. Art“ genannt. Bei der Polizei wäre das ein Verdächtiger, der aber unschuldig ist; in der Medizin wäre das ein auffälliger Befund, der sich bei der anschließenden Abklärung erledigt. Ein Fehler der 2. Art ist hingegen ein Täter, der frei herumläuft, oder ein Tumor, der bei einer Vorsorgeuntersuchung übersehen wird.

Lieber zu viel warnen als die Gefahr unterschätzen?

Wissenschaftler achten vor allem darauf, Fehler der 1. Art zu vermeiden, und legen dafür statistische Grenzwerte fest. Als Physiker am Forschungszentrum Cern das Higgs-Teilchen nachweisen wollten, haben sie die Latte hoch gesetzt: Die Wahrscheinlichkeit für einen Fehler der 1. Art – also das Risiko ein Higgs-Teilchen gefunden zu haben, das keines ist – sollte unter 1 zu zwei Millionen liegen. Diese Hürde haben sie genommen und sind nun relativ sicher, dass sie das Higgs-Teilchen tatsächlich nachgewiesen haben. In der Klimaforschung wird, wie in vielen anderen Disziplinen auch, die Latte niedriger gehängt: Hier akzeptiert man ein Phänomen, wenn die Wahrscheinlichkeit eines Irrtums unter fünf Prozent liegt. Dann spricht man davon, dass das Resultat statistisch signifikant sei. Dass Wirbelstürme durch den Klimawandel häufiger werden, ist noch nicht mit dieser Sicherheit nachgewiesen worden. Doch der statistische Grenzwert sei eine willkürliche Übereinkunft der Wissenschaftler, schreiben Oreskes und Conway. Und je höher man den Grenzwert setze, umso größer sei das Risiko, dass man ein reales Phänomen übersehe. „Ist ein Fehler der 1. Art schlimmer als ein Fehler der 2. Art?“, fragen die Autoren schließlich und geben gleich die Antwort: Wenn es darum gehe Umweltrisiken abzuschätzen, sollte man darauf achten, kein Risiko zu übersehen oder zu unterschätzen, also den Fehler der 2. Art klein halten. Die geltenden wissenschaftlichen Standards würden die Beweislast jedoch dem Opfer aufbürden – „und es könnte sein, dass wir dabei versagen, bedrohten Menschen zu helfen“.

Mir gibt das zu denken. Brauchen wir mehr Klimaforscher mit Mut zur öffentlichen Auseinandersetzung? Ich achte in meinen Beiträgen darauf, zwischen Forschungsergebnissen und politischen Äußerungen zu trennen. Mir gefällt, dass der Weltklimarat IPCC in seinem jüngsten Abschlussbericht das Zwei-Grad-Ziel als politisches Ziel kennzeichnet, und es gefällt mir nicht, dass die Vereinten Nationen das Zwei-Grad-Ziel als wissenschaftlich untermauert beschrieben haben (2. Absatz im Copenhagen Accord von 2009). Mit der Temperatur steigt das Risiko und es ist eine Abwägung von Werten, welches Risiko eine Gesellschaft eingehen will – so meine bisherige Haltung. Ich finde auch, dass sich Joachim Schellnhuber vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung zu sehr aus dem Fenster lehnt, wenn er seine Zuhörer im Vortrag warnt: „Don’t kill your children.“ Schellnhuber hat zwar in einem StZ-Interview erklärt, warum er sich politisch engagiert: „Wir sind die Lotsen. Wir müssen unsere Botschaften an den Mann bringen und dabei zur Not auch laut werden.“ Aber ich befürchte, dass die Wissenschaft Schaden nehmen könnte, wenn sie die Rolle des zurückhaltenden, mönchsartigen Pedanten ablegt. Es gibt durchaus Wissenschaftler, die gesellschaftlich relevanter wirken wollen, aber es ist unklar, ob sie damit nicht auch Vertrauen einbüßen. Sollte ich diese Linie in meinen Kommentaren verlassen?

In meiner Antwort möchte ich zwischen dem Auftreten von Wissenschaftlern und den wissenschaftlichen Belegen unterscheiden. Wenn Wissenschaftler in die Öffentlichkeit treten, setzen sie neue Dynamiken in Gang. Wenn sie zum Beispiel starke Prognosen wagen, werden sie anschließend daran gemessen. Auf einmal spielt es auch eine Rolle, ob sie sympathisch wirken und verständlich sprechen. Sie sind auch in gewisser Weise Vorbilder, denn viele Laien werden denken: So sind also die Wissenschaftler. Vielleicht tragen sie dazu bei, dass sich mehr Menschen für eine Wissenschaft interessieren, vielleicht schrecken sie auch ab. Und schließlich wird in der Soziologie untersucht, ob Wissenschaftler ihre Forschungsthemen verstärkt danach auswählen, wie gut sie damit in der Öffentlichkeit punkten können. Das ist eine interessante Entwicklung, zu der es bisher wenig habhafte Erkenntnisse gibt. Ich glaube, dass man die Frage, was davon gut oder schlecht ist, von der anderen Frage, um die es mir nun gehen wird, trennen kann. Wie Wissenschaftler in der Öffentlichkeit auftreten, bespreche ich ein anderes Mal.

Konsequenz für den Journalismus: mehr Statistik erklären

Naomi Oreskes’ und Erik Conways Vorschlag hängt nicht am politischen Engagement der Wissenschaftler, soweit ich das sehe. Es geht vor allem um die Frage, was als wissenschaftliches Resultat zählt. Muss die Irrtumswahrscheinlichkeit erst unter fünf Prozent liegen, damit man ein Phänomen ernst nimmt? „Die Fünf-Prozent-Grenze hat nichts Magisches an sich“, schreiben Oreskes und Conway. Ich finde, dass man sich durchaus darüber unterhalten kann, ob diese Grenze angemessen ist, wenn es darum geht, Umweltrisiken abzuschätzen. Natürlich wäre es unredlich, die statistischen Standards nachträglich zu senken, um ein erwünschtes Ergebnis doch noch zu bestätigen. Aber es wäre durchaus denkbar, eine Umweltgefahr ernst zu nehmen, der noch eine Wahrscheinlichkeit von zehn Prozent anhaftet, sich als Illusion herauszustellen. An diesen Punkt hatte ich noch nicht gedacht, aber er leuchtet mir ein.

Für mich heißt das: Ich sollte künftig nicht mehr schreiben, ein Zusammenhang von Hurrikanen und Temperaturanstieg sei nicht nachgewiesen, sondern sollte vielmehr erklären, welchen Zusammenhang die Wissenschaft herstellt. Dann wäre es an der Gesellschaft zu sagen, ob ihr dieser Zusammenhang ausreicht, um politisch aktiv zu werden. Allerdings sehe ich zwei Schwierigkeiten mit diesem Ansatz, für die ich keine Lösung weiß: Zum einen wird die journalistische Recherche schwieriger, weil die gesuchten Angaben nicht leicht verfügbar sind. Ergebnisse, die nicht statistisch signifikant sind, werden zum Beispiel oft nicht veröffentlicht. Zum anderen wird die journalistische Vermittlung schwieriger, weil man dem Publikum Statistik zumuten muss. Die bisherigen Reaktionen von Politik und Öffentlichkeit lassen nicht erwarten, dass sie mit sauber vermittelten wissenschaftlichen Erkenntnissen sinnvoll umgehen. Die ursprüngliche Frage von Oreskes und Conways Buch, warum im 21. Jahrhundert so wenig gegen den Klimawandel getan worden sei, lässt sich daher mit dem Hinweis auf die Wissenschaftler und ihre Resultate nicht erklären.