Inmitten des größten Familienausflugs der jüngeren deutschen Geschichte einigt sich die Koalition nach fast 19 Stunden auf ein Klimaschutzpaket – nicht nur Kanzlerin Merkel weiß, dass man wie von den Klimaaktivisten verlangt eigentlich mehr tun müsste.

Berlin - Viele weitere Demonstranten werden noch folgen, die Frau mit dem Grundgesetz aber ist die erste, die an diesem Friday for future vor das Bundeskanzleramt gezogen ist. Direkt neben dem polizeibewachten Eingangstor streckt sie ein Transparent in die Höhe, auf das sie handschriftlich den Artikel 20a des Grundgesetzes geschrieben hat: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen“. Wenn sich die Regierungen in der Vergangenheit daran gehalten hätten, argumentiert die Rentnerin, „hätten wir jetzt kein Problem“.

 

Es ist kurz nach sieben Uhr am Freitagmorgen. Während auf der Wiese neben der deutschen Regierungszentrale die kleine Zeltstadt zum Leben erwacht, müde Klimaaktivisten aus ihren Schlafsäcken kriechen und Kaffee aufbrühen, gehen im Innern des Kanzleramts die Verhandlungen über die zukünftige deutsche Klimapolitik in ihre 14. Stunde. Ganz oben im achten Stock, im Kanzlerappartement, in dem Gerhard Schröder gewohnt hat, Angela Merkel aber nur ihre Koalitionsrunden veranstaltet, sitzt sie noch immer mit den Spitzen von CDU, CSU und SPD zusammen. Zwei Stunden werden noch vergehen, ehe in einer Textnachricht auf dem Handy davon die Rede ist, dass sich die Teilnehmer nun „auf der Zielgeraden“ befänden.

Sechs Monate ist im Kanzleramt gerechnet und verglichen worden

Gegen 11.30 Uhr lässt sich die Kanzlerin auf dem Balkon ihrer Wohnung blicken, mit dem Handy am Ohr. Auch die kommissarische SPD-Chefin Malu Dreyer, der sozialdemokratische Vizekanzler Olaf Scholz und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt werden im Freien gesichtet, wie sie telefonisch Rücksprache halten und ihren Parteien wie Bundesländern die Verhandlungsstände spiegeln. „Der Absprachebedarf“, heißt es, „ist sehr hoch.“

Das Thema ist groß, alles hängt mit allem zusammen. Was soll die Tonne Kohlendioxid künftig kosten, dass Bürger und Unternehmer sparsamer damit umgehen und Deutschland wie vereinbart im Jahr 2030 insgesamt 55 Prozent weniger ausstößt als 1990? Was wäre eine Überforderung? Wie viel Geld nimmt der Staat über diesen CO2-Preis ein? Was gibt er den Bürgern davon als Stromsteuersenkung zurück? Wie viel Geld fehlt dann noch für andere Fördermaßnahmen? Die Union setzt mehr auf Anreize und den Markt, Klimaschutz soll für den Einzelnen finanziell lukrativ sein, die Sozialdemokraten stärker auf gesetzliche Regeln. Sechs Monate ist im Kanzleramt gerechnet und verglichen worden, was welche Maßnahme bringt und was sie kostet – zusammen werden es am Ende 54 Milliarden Euro bis 2023 sein. Das alles muss in dieser nicht enden wollenden Sitzung irgendwie zu einem schlüssigen Paket zusammengefügt werden – und das dauert. Der chaotische Tagesverlauf strapaziert die Geduld der Journalisten wie der Klimademonstranten.

„Opa, was ist ein Schneemann?“ fragt eine Klimademonstrantin

Deren Geduld mit der Politik ist ohnehin nahezu erschöpft. Davon zeugen die Sprüche auf den zahllosen Transparenten, die rund um das Brandenburger Tor zu sehen sind. „Sinneswandel statt Klimawandel“ steht dort. „Das Klima ist noch heißer als ich“, stellt eine selbstbewusste Teenagerin fest. „Auf welcher Seite der Geschichte stehst Du?“ fragt ein Plakat, „Opa, was ist ein Schneemann?“ Und immer wieder skandieren die Schülerinnen und Schüler: „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihre unsere Zukunft klaut.“

Beeindruckende 270000 Menschen sind den Veranstaltern zufolge nach Berlin-Mitte geströmt, um ihrer Forderung nach einer wirklich konsequenten Klimaschutzpolitik Ausdruck zu verleihen – die Polizei spricht von 100000. Anders als an den Schülerstreik-Freitagen zuvor sind die Kinder und Jugendlichen nicht unter sich. „Alle fürs Klima“, heißt das Motto dieser Demonstration, die zum wohl größten Familienausflug der jüngeren deutschen Geschichte gerät. Kinderwagen säumen die Straße des 17. Juni, Väter und Söhne, die stolz ihr selbst gebasteltes Demonstrationsgerät mit sich führen, Mütter begleiten den Grundschulwandertag ihrer Töchter. „Because I’m a mom“ – dieser englische Spruch auf einem Schild reicht aus als Begründung, um sich für einen für künftige Generationen lebenswerten Planeten einzusetzen.

Fridays for future hat uns alle aufgerüttelt“

Gegen halb eins mittags steigt aus dem Kanzleramt der sprichwörtliche weiße Rauch auf. Die übermüdeten Protagonisten machen sich kurz frisch, ehe sie zwei Etagen tiefer eine Kabinettssitzung abhalten, die aus einer informellen Koalitionsabsprache die offizielle Klimapolitik der Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland gemacht hat. Um 14.30 Uhr betreten die Kanzlerin und ihre Mitstreiter schließlich das „Futurium“ am Spreeufer, ein neues interaktives Erlebnismuseum, das die Zukunft im Namen trägt und eben deshalb als Bühne ausgesucht wurde.

In Gedanken sind die protestierenden Schüler mit im Raum, obwohl die Polizei peinlich genau darauf achtet, dass nicht zu viele von ihnen zum Gebäude der Pressekonferenz vordringen. Vizekanzler Scholz bekennt ganz offen, warum die Regierung nach langen Jahren des klimapolitischen Stillstands überhaupt in die Pötte gekommen ist: „Fridays for future hat uns alle aufgerüttelt.“ Der innerhalb weniger Monate ergrünte CDU-Chef Söder bedankt sich gar ausdrücklich bei den Protestierenden. Ihre Ikone Greta Thunberg wird von der Naturwissenschaftlerin Merkel zitiert: „Unite behind the science“ – das Klimaschutzprogramm 2030 habe nichts mit grüner Ideologie zu tun, den Handlungsdruck hätten die Klimaforscher erzeugt.

Was die Wissenschaft verlangt, kann die Politikerin Merkel nicht halten

Die Kanzlerin weiß in diesem Augenblick selbst, dass der Regierungsbeschluss den wissenschaftlichen Anforderungen nicht genügt. Die „Fridays“-Demonstranten lassen per Twitter wissen, dass Merkels Plan für sie „kein ,Durchbruch‘, sondern ein Eklat“ ist. „Das unterscheidet Politik von der Wissenschaft“, sagt sie, es gehe, „um das, was möglich ist“. Die Regierungschefin räumt beispielsweise ein, dass der Einstiegspreis für die Tonne CO2 „recht niedrig“ ist – Benzin und Heizöl werden damit im ersten Schritt nur knapp drei Cent teurer. Für Merkel liegt der Erfolg darin, dass es überhaupt ein Preissignal gibt: „Jetzt müssen wir erst einmal damit beginnen.“ SPD-Chefin Dreyer sagt denen, „die meinen, es wäre nicht genug“, dass „wir als Gesellschaft zusammenbleiben“ müssen. Daraus spricht die Sorge, dass Umstiegsanreize und Ausgleichszahlungen nicht allen Unmut auffangen können, der noch mehr Wasser als jetzt schon auf die Mühlen der AfD leiten könnte. Die Koalitionsrunde ist vor allem froh, dass sie überhaupt zusammengefunden hat. „Ganz sicher nicht schlecht für das Klima in dieser Koalition“ – so lautet das Urteil von CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer über die Einigung.

Wenige Stunden zuvor steht sie auf Messers Scheide. Die Sozialdemokraten verlangen mehr Ehrgeiz beim Ausbau der erneuerbaren Energie – schließlich sind alle sauberen Zukunftspläne wertlos, wenn nicht genug Ökostrom erzeugt wird. Der Bayer Söder will aber nicht daran rütteln, dass Windräder in Bayern viel weiter vom nächsten Ort entfernt stehen müssen als anderswo, also wenig Fläche zur Verfügung steht. Am Ende bekommt er seinen Willen, weil Kanzlerin Merkel der SPD eine Zusage macht, die die Union lange nicht geben wollte: Wenn in den nächsten Jahre eine Lücke beim CO2-Abbau entsteht, muss das Klimakabinett innerhalb von drei Monaten nachbessern. Das, so Merkel, sei nun die eigentliche „Garantie“, dass das 2030er-Ziel auch wirklich erreicht wird. Umweltministerin Svenja Schulze, die diesen Kontrollmechanismus ursprünglich vorgeschlagen hatte und jetzt im Publikum sitzt, strahlt über beide Ohren.

Den größten Koalitionsstreit erzeugt an diesem ganz besonderen Freitag die Müdigkeit. „Schlaf wird überschätzt“, witzelt Malu Dreyer über den fast 19-stündigen Verhandlungsmarathon. Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus widerspricht auf der Stelle: „Ich möchte den Schlaf nicht missen.“ Merkel wiederum will ihn jetzt nachholen, widerspricht aber der Auffassung, dass nächtens generell keine guten Entscheidungen getroffen werden könnten, da sie sich über Monate inhaltlich vorbereitet habe: „Manchmal kommt in der Politik ein Punkt, da muss man auch über die Hürden hinweg, die man auch an zehn Abenden zuvor nicht genommen hat.“

Das hat Angela Merkel, die einst Klimakanzlerin genannt wurde, wieder einmal geschafft. Die Demonstranten, die noch viele Stunden nach der Entscheidung durch Berlin ziehen, sind freilich der Meinung, dass die Kanzlerin diesen Status nicht erneuert hat.