Samuel Bosch sieht sich gezwungen, in einem Camp im Altdorfer Wald (Kreis Ravensburg) zu leben. Für seine Mutter Gudrun war es hart, zu begreifen, dass dem Sohn Klimademos zu lasch sind.
Der Winter im Wald bricht an. In kalten Nächten verkriecht sich Samuel Bosch am liebsten in dem Wohnwagen, den sie zwischen zwei Bäumen hochgehievt und auf einem Gebälk der Marke Eigenbau verankert haben. Darauf mit Farbe hingepinselt: „Ohne Bäume keine Träume.“ Im fliegenden Camper sei es angenehmer als in den Baumhäusern. Samuel Bosch weiß das, es ist nicht sein erster Winter in freier Wildbahn. Samuel Bosch muss seit Februar 2021 in einem kleinen Stück des Altdorfer Waldes bei Grund im Landkreis Ravensburg leben. Muss deshalb, weil er – wie er sagt – nicht anders kann.
Seit schon bald vier Jahren versucht er mit anderen, zu verhindern, dass hier in Zukunft Kies abgebaggert wird. Die Argumente der Waldbesetzer, die keiner festen Organisation zugeschrieben werden wollen: Kies und Beton zerstören das Klima und das Idyll Altdorfer Wald mit seinen einzigartigen Trinkwasserquellen. Profitgier schlägt Klimaschutz, so ihr Vorwurf. Samuel Bosch sagt: „Beim Kiesabbau zeigt sich die Rücksichtslosigkeit besonders gut.“ Weil er mit dieser Einschätzung auch öffentlich regelmäßig provoziert, steht er mit einem Bein im Knast.
Im Wald lernt er Englisch, Hausbau und Klettern
Mit seinen langen, offenen Haaren, der braunen Cordhose, der himmelblauen Jacke und den Wanderstiefeln ist er zum Gesicht des Klimaprotests in Oberschwaben geworden, zum blonden Bengel aus dem Altdorfer Wald. Er strahlt Ruhe aus, keine Verbitterung. Er hat die Schule ab der Elften sausen lassen. „Ich hatte das Gefühl, ich lerne im Wald viel mehr.“ Zum Beispiel Klettern, Englisch, Hausbau, Biologie, Öffentlichkeitsarbeit, Basisdemokratie und so weiter.
Aufgewachsen ist der heute 21-Jährige wenige Kilometer entfernt vom Camp, im Dörfchen Schlier. Seitdem er im Februar 2021 mit zwei Freunden und den Fahrrädern in den Wald gekommen ist, um zu bleiben, ist nahe der Landstraße am Abzweig Grund ein illegales Baumdorf entstanden.
Gudrun Bosch ist die Mutter eines Ungehorsamen. /privat
Die erste Hütte haben sie damals auf die Schnelle zusammengezimmert. Inzwischen sind mit mehr Ruhe um die 15 Behausungen entstanden, sie heißen Rattenloch, Euting oder Irgendwie. „Wir haben mehr als 40 Schlafplätze“, sagt Samuel Bosch. Sie gehören denen, die gerade da sind. Ein Stammhaus hat keiner. Was die Hütten gemeinsam haben: Sie sind so weit oben befestigt, dass die Bewohner schwindelfreie Tarzane sein müssen – und dass es für eine Räumung Leute vom SEK bräuchte. Das Kalkül der Aktivisten: Das macht die Sache aufwendiger, teurer und produziert entsprechende Bilder.
Auch wenn es theoretisch jederzeit so weit sein könnte, momentan ist es still. Nur einer oder eine hämmert irgendwo herum. Zum festen Kern gehören nach eigenen Angaben zwei Dutzend, zum Unterstützerkreis in den umliegenden Dörfern etwa 250 Leute.
Samuel Bosch klettert über eine Leiter ins Gemeinschaftsbaumhaus; dort steht ein Holzofen zum Kochen, die Vorräte sind maussicher in einer Tonne verpackt, es gibt WLAN und jede Menge USB-Anschlüsse, um Handys zu laden. Den Saft liefern Solarzellen oben in den Baumkronen. Am Boden warten Bretter, Balken und anderes Material darauf, verschafft zu werden. Wo Menschen siedeln, wächst Infrastruktur, das gilt auch fürs Waldschützercamp. Aber die Vision geht anders.
„In unserem Traum wird der Wald gerettet“, sagt Samuel Bosch, an seinen Fingern klebt weiße Farbe. Dann werden sie ein großes Fest feiern und alle Leute aus der Klimabewegung einladen – auch um aufzuräumen, der Natur zurückzugeben, was ihr gehört. Das Wegesystem hätten sie schon ausgedünnt. „Wir achten drauf, dass wir uns nicht stark ausbreiten“, sagt Samuel Bosch. „Aber ohne uns würde der Wald gerodet werden, das bringt ihm auch nichts.“ Sie hausen ja nicht aus Abenteurerlaune hier draußen.
Ziviler Ungehorsam als persönliche Pflicht
Manchmal sagt er sich: „Ich mach’ mal Pause und tramp’ irgendwohin.“ Oder: „Vielleicht sollte ich doch mal eine Ausbildung anfangen, etwas Gefestigteres.“ Es bleiben Gedanken, denn er sagt auch: „Das geht nicht. Dann würde ich mich ja selber belügen.“ Er sieht zurzeit im zivilen Ungehorsam seine persönliche Pflicht.
Laut der Rechtsphilosophin Samira Akbarian, die zum Thema forscht und gerade ein Buch veröffentlicht hat, hilft ziviler Ungehorsam Bürgern, in einer Grauzone von Legalität und Legitimität zu zeigen, wenn sie den Rechtsstaat ungerecht finden. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk sagte Akbarian unlängst, gerade Klimaaktivisten würden vorschnell in die Terroristenecke gestellt. Damit werde der Wert von zivilem Ungehorsam verkannt: ein moralisches Dilemma gewaltfrei auszudrücken.
Zum festen Kern gehören nach eigenen Angaben zwei Dutzend, zum Unterstützerkreis in den umliegenden Dörfern etwa 250 Leute. Foto: privat
Dass Samuel Bosch mit seinen Forderungen für einen konsequenteren Klimaschutz nicht allein dasteht, zeigen Umfragen. Zwar hat sich angesichts der aktuellen Krisenanhäufung eine Art Mehltau über die 2019 noch so kraftvolle Klimabewegung gelegt. Selbst um die Aktivisten der Letzten Generation ist es ruhig geworden. Doch laut der aktuellen Shell-Jugendstudie ängstigen Klimawandel und Umweltverschmutzung zwei Drittel der Zwölf- bis 25-Jährigen in Deutschland. Das deckt sich mit den Erkenntnissen aus dem ARD-Deutschlandtrend von Ende 2023. Nur einem knappen Drittel geht es demnach beim Klimaschutz zu schnell, 44 Prozent sagen sogar, es dürfte ruhig noch mehr Zug dahinter sein.
Gudrun Bosch sagt, sie habe ihre beiden Söhne umweltbewusst erzogen, und sie sei auch immer schon selbst auf Demos gegangen. Es war hart für sie, zu begreifen, dass ihr älterer Sohn bereit ist, für den Klimaschutz um einiges weiterzugehen als andere. Dicht an die Grenzen der Legalität, um dem Anliegen Gehör zu verschaffen. In einem Café am Ravensburger Bahnhof sagt Gudrun Bosch: „Es ist sein Weg, um gesund zu bleiben.“ Ihre Augen hinter der roten Brille sind feucht. „Ich konnte nie etwas dagegen sagen. Er hat Fragen gestellt, wo die Antworten von Eltern aufhören.“
Mit dem Rad 450 in den Dannröder Forst
Der Moment, in dem sie zum ersten Mal merkte, dass Klimademos ihrem Kind zu lasch sind, war aber ein anderer. Anfang der elften Klasse war Samuels Bett morgens leer. Seine Nachricht per SMS: „Mach dir keine Sorgen Mama, bin in einer Woche wieder da.“ Schon die Tage davor sei er unruhig gewesen, habe gesagt: „Mama, noch drei Jahre Schule, und draußen brennt die Welt.“ Auch wenn es sich angebahnt hatte: Als er ihr simste, mit dem Pedelec 450 Kilometer ins Camp im Dannröder Forst zu fahren, klang das wie ein schlechter Scherz.
Sie musste sich an solche Sorgen gewöhnen, denn sie gehören nun zu ihrem Alltag. Sie war zum Beispiel dabei, als das SEK ihren Sohn 2020 aus seinem ersten Protestbaumhaus in Ravensburg gepflückt hat. „Das war sehr bedrohlich“, erinnert sich Gudrun Bosch. Oder die Banner-Aktion an der Basilika in Weingarten im Herbst 2021. Trotz Gips am rechten Arm sei er hochgeklettert. Außerdem ist er vorbestraft – weil er weggeworfene Lebensmittel aus Supermarkt-Mülleimern gefischt hat und dabei erwischt wurde. Die Aktionen und Reaktionen füllen inzwischen mehrere Leitzordner.
Ihre größte Angst ist, dass ihr Sohn wieder in Haft muss. Im Oktober 2022 hatte er mit anderen am Augsburger Fronhof, dem Sitz der Regierung von Schwaben, ein Banner entrollt. Darauf war zu lesen: „Lohwald-Rodung genehmigen trotz laufender Gerichtsverfahren? Frech!“ Sie prangerten damit die Erweiterung eines Stahlwerks in einem Bannwald an und stellten Bestechlichkeit in den Raum. Samuel Bosch wurde wegen übler Nachrede gegen Personen des politischen Lebens sowie Hausfriedensbruchs verurteilt und musste im März 2024 für drei Wochen in den Jugendarrest nach Göppingen. „Kommt er da mental gesund wieder raus?“, hat sich Gudrun Bosch damals vor allem gefragt.
„Es war schon belastend“, sagt er selbst. „Man muss aufpassen, dass man nicht depressiv wird.“ Er hat Tagebuch geschrieben und Mithäftlingen geholfen, den Paragrafendschungel besser zu durchblicken. Nach zwei Wochen kam er überraschend frei, weil der Widerspruch, den sie beim Bundesverfassungsgericht eingelegt hatten, Erfolg gehabt hat. Der Fall wird erneut aufgerollt, der nächste Verhandlungstag ist am 31. Oktober.
Bundesverfassungsgericht gab ihnen recht
Samuel Bosch hat keinen Anwalt, er und die anderen verteidigen sich mittlerweile selbst. Im für ihn ungünstigsten Fall müsste er den hängenden Wohnwagen zeitweise gegen eine Zelle eintauschen. „Es können theoretisch drei bis fünf Jahre Haft rauskommen“, sagt er, während er den Pfad zur neuen Lichtung hochläuft, in Richtung der Häuser, die tiefer im Wald thronen. Er hält so ein hohes Strafmaß für unrealistisch. „Das trauen sie sich nicht.“ Schließlich habe sogar das Bundesverfassungsgericht ihnen recht gegeben. „Wir lassen uns nicht einschüchtern.“
Er ist jetzt auf der kleinen Lichtung angekommen. Als sie eingezogen sind, standen da noch Bäume. Bis der Borkenkäfer kam, eine Folge des Klimawandels. Mit dem Förster hätten sie ausgemacht, dass die befallenen Bäume gefällt werden. „Wir wollen den Wald ja erhalten.“ Die Waldarbeiter hätten einen Maulkorb von ganz oben, „sie dürfen nicht mit uns reden“, erzählt Samuel Bosch. Die Förster schon, mit denen plaudern sie ab und zu. „Aber das ist halt ziemlich langweilig, weil sie sagen, wir brauchen den Kiesabbau.“ Und wie es derzeit aussieht, sagen das nicht nur die Förster. Der Regionalplan Bodensee-Oberschwaben ist 2023 genehmigt worden; darin enthalten auch die Möglichkeit, den Kiesabbau zu erweitern.
Haben sie verloren? „Wenn man sich über die kleinen Sachen freut, geht es Stück für Stück weiter und irgendwann hat man’s“, sagt Samuel Bosch. Und selbst wenn der Wald gerodet würde, dass sie hier sind, zeige längst Wirkung. Kiesunternehmer würden sich eine Erweiterung in Zukunft doch dreimal überlegen, wenn das einen solch nervigen Rattenschwanz nach sich zieht.
Dieser Rattenschwanz, das sind sie. Und dazu gehört inzwischen mehr als das illegale Walddorf und die Banneraktionen. Mit dem Theaterprojekt „Kiesgold“ bringen die Aktivisten das Thema auf die Bühne, sie laden zu Konzerten im Wald, Samuel Bosch will bald ein Buch veröffentlichen, und es gibt den Doku-Film „Von Menschen, die auf Bäume steigen“. Sie trommeln auf verschiedensten Ebenen. „Ich denke, dass ich noch mehrere Jahre im Wald leben werde“, sagt Samuel Bosch. Wenn nicht hier, dann woanders.
Gudrun Bosch wäre eine normale WG lieber. Aber nach vier Jahren als Mutter eines Ungehorsamen sagt sie: „Ich will, dass mein Kind glücklich ist.“