Klimawandel in Stuttgart Familienvater wacht nachts auf - diese Viertel trifft die Hitze am heftigsten
Armut und Umweltbelastung kommen in Stuttgart nirgendwo so markant zusammen wie in zwei Vierteln in der City. Stimmen von Leuten, die dort wohnen.
Armut und Umweltbelastung kommen in Stuttgart nirgendwo so markant zusammen wie in zwei Vierteln in der City. Stimmen von Leuten, die dort wohnen.
Als Kai Koch in den 1990er-Jahren seine Arbeit in der Caritas-Tagesstätte an der Olgastraße 46 begann, konnte man dort mit gespendeten Hüten, Caps und Sonnenbrillen nicht viel anfangen. Damals war die Kleiderkammer der Einrichtung für Wohnungslose vor allem mit warmen Winterjacken, Schals und Wollmützen befüllt. Längst haben dort aber auch sommerliche Kopfbedeckungen ihren festen Platz. „Die Hitze ist inzwischen ein größeres Problem als die Kälte im Winter“, sagt Sozialarbeiter Koch.
Der heutige Leiter der Tagesstätte am Rande des Bohnenviertels weiß: Die Folgen des Klimawandels treffen längst nicht alle Menschen gleich. „Obdachlose, die den Tag an der Bushaltestelle oder in der Unterführung verbringen, können sich kaum vor der Hitze schützen.“
Vor diesem Hintergrund unterscheiden sich auch die Viertel Stuttgarts in Sachen Umweltgerechtigkeit stark voneinander. Eine Auswertung unserer Redaktion auf Basis städtischer Daten zeigt, wie die Quartiere der Stadt bei diesem Thema dastehen. Einbezogen wurden dafür die Dimensionen Umweltbelastung (darunter Hitze), Gesundheit und Armut. Der einzige Bereich, in dem die Ungerechtigkeit als „stark überdurchschnittlich“ bewertet wird, umfasst das Bohnenviertel und das benachbarte Leonhardsviertel.
Das bedeutet: Hier leben überdurchschnittlich viele Menschen, die besonders unter den hohen Temperaturen in der eng bebauten Innenstadt leiden dürften. Zumindest legt dies die Statistik nahe. Gleichzeitig offenbart ein sommerliche Spaziergang durch die beiden Viertel schon innerhalb der Quartiere starke Kontraste. Einerseits suchen Menschen, die ihr Hab und Gut in großen Plastiktüten mit sich tragen, im Schatten der Leonhardskirche Schutz vor der Mittagshitze. Andererseits wird nicht weit davon entfernt am Abend ein Sterne-Menü in den klimatisierten Räumen des Edelrestaurants Zauberlehrling serviert werden.
Selbst in der Leonhardstraße, der stadtweit berüchtigten Party- und Rotlichtmeile, prallen verschiedene Lebensrealitäten aufeinander. So leben Andreas Minich und Lars Wais inmitten der Bordelle auf mehr als 100 Quadratmetern in einer lichtdurchfluteten Altbau-WG. Obwohl direkt unter dem Dach gelegen, stellt die Hitze für die beiden Männer dort kein Problem dar. Schließlich ist ihr Zuhause mit Klimaanlagen ausgestattet, die im Winter als Heizungen fungieren. „Im Sommer haben wir quasi zwei Klimazonen“, sagt der 34-jährige Minich. Er und sein Mitbewohner Wais kühlen sie sich an heißen Tagen ihre Schlaf- und Arbeitszimmer auf angenehme 24 Grad herunter.
Dem 29-jährigen Wais ist jedoch klar, dass diese Verhältnisse für die Gegend ungewöhnlich luxuriös sind. Seine Beobachtung. „Die meisten hier haben nachts trotz des Lärms von der Straße die Fenster offen.“
Nur wenige hundert Meter weiter – im Herzen des Bohnenviertels – wohnt Ilya Gufan seit 2022 mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern in einer 60-Quadratmeter-Wohnung. Zwar sagt der 40-Jährige, der ehrenamtlich ukrainische Roma-Flüchtlinge unterstützt: „Mir gefällt es hier sehr.“ Denn im Vergleich zu vorherigen Wohnungen in Cannstatt oder im Westen nehme er das Bohnenviertel mit seinen vielen Bäumen als deutlich grüner wahr. Allerdings: Wirkliche Parkflächen gibt es hier nicht. Die engen Pflasterstein-Gassen bieten zwar einen malerischen Anblick, stauen gleichzeitig aber auch die Hitze.
Deshalb versammelt sich an heißen Tagen die komplette Familie Gufan im kühleren Kinderzimmer, das zum Hof des Gebäudes hin ausgerichtet ist. „Das ist eine Lösung, aber keine gute Lösung.“ Zumal sie nur tagsüber funktioniert. Nachts müssen die Eltern wohl oder übel zurück an die Straßenseite in ihr Schlafzimmer. „Ich wache dann manchmal um 4 Uhr auf, weil ich kaum noch atmen kann“, schildert Ilya Gufan.
Noch schwieriger sind diese Bedingungen für Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben. In der Caritas-Tagesstätte an der Olgastraße sei der Andrang im Sommer inzwischen deutlich größer als früher, sagt Kai Koch. „Denn hier ist es wenigstens kühl, wenn wir die Jalousien runter machen.“ In der Einrichtung gibt es werktags ab 7.30 Uhr Frühstück für arme sowie wohnungslose Menschen und später ein Mittagessen, dazu neben dem Kaffee im Sommer gekühlten Minztee, Buttermilch oder auch mal ein gespendetes alkoholfreies Bier.
Doch nach 13.30 Uhr werden die Räumlichkeiten für andere Angebote benötigt. „Dann heißt es, immer schön Schatten suchen“, sagt ein 27-Jähriger, während er in der Tagesstätte sein Frühstücksbrot verzehrt. „Und an öffentlichen Brunnen kann man sich abkühlen“, fügt ein anderer Besucher hinzu.
Allerdings: Sich zu waschen, ist dort keine Option. Dabei stellt die Körperhygiene gerade bei Hitze ein großes Problem für Obdachlose dar. „Deshalb dürfen die Menschen bei uns im Sommer etwas länger duschen“, erklärt Kai Koch. Doch die Kapazitäten der Tagesstätte sind auch in dieser Hinsicht begrenzt. Am liebsten wäre es dem Sozialarbeiter, Badeeinrichtungen würden zu bestimmten Zeiten für Menschen ohne Wohnung öffnen. Er sagt: „Meine Wunschvorstellung ist ein Wellnesstempel für Obdachlose.“
Stadtviertel
Die Stadtviertel beruhen auf einer Neugliederung, die Stadtverwaltung und Gemeinderat im Jahr 2019 beschlossen haben. Das Stuttgarter Stadtgebiet wurde dabei in 457 sozialstrukturell zusammenhängende Nachbarschaften aufgeteilt. Sie sind mit ihren durchschnittlich 1400 Einwohnern deutlich überschaubarer als die ihnen übergeordneten Stadtteile und Stadtbezirke, und eignen sich damit besser für kleinräumigere, präzisere Analysen.
Monitoring
Der erste Teil des Quartiersmonitorings zum Thema Armut wurde bereits 2021 abgeschlossen, nun sind mit den Gesundheits- und Umweltanalysen weitere Daten hinzugekommen. Insgesamt 110 Stadtviertel sind allerdings so dünn besiedelt, dass sie im Quartiersmonitoring nicht berücksichtigt werden.