Frankreich setzt bei der Energiegewinnung unbeirrt auf Kernenergie – trotz aller Probleme. Die Milliarden für die Entwicklung neuer Anlagen sollen auch von der EU kommen, was die Kritiker natürlich entsetzt.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Brüssel - Die Renaissance der Atomkraft hat nun ein Preisschild. Weit über 500 Milliarden Euro sollen in Europa bis 2050 in die Atomkraft investiert werden. Zum ersten Mal legte EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton diese Summe in einem Interview mit der französischen Zeitung „Journal du Dimanche“ auf den Tisch. „Allein für die bestehenden Kernkraftwerke werden bis 2030 Investitionen in Höhe von 50 Milliarden Euro erforderlich sein“, sagte der französische Politiker. „Und für die neue Generation werden 500 Milliarden benötigt.“

 

Frankreich kämpft für die Atomkraft

Diese Summen machen deutlich, weshalb Frankreich dafür gekämpft hat, dass Kernkraft als „grüne“ Energieform in die sogenannte EU-Taxonomie aufgenommen wird. Sie ist eine Art Klassifizierung nachhaltiger Wirtschaftsaktivitäten und kommt einer Einstufung als förderwürdig und einer Empfehlung an Investoren gleich. Um das notwendige Kapital anzulocken, sei es „entscheidend“, Atomkraft als nachhaltige Energieform einzustufen, erklärte Breton mit entwaffnender Offenheit.

Vor allem in Deutschland löste die Taxonomie heftige Kritik aus - auch von allen drei Regierungsparteien SPD, Grüne und FDP. Mit Blick auf Gaskraftwerke gab es hingegen unterschiedliche Reaktionen. Während Regierungssprecher Steffen Hebestreit Anfang der Woche erklärte, die Kriterien zur Einstufung von Gaskraftwerken seien „im Einklang mit der Position der Bundesregierung“, gab es bei den Grünen zum Teil Bedenken zu den Gas-Plänen.

Berlin ist gegen ein „grünes EU-Label“

In Berlin ist die Hoffnung gering, ein „grünes EU-Label“ für Atom- und Gaskraftwerke noch abzuwenden. In einem Interview mit der „Bild am Sonntag“ sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, Michael Roth: „Deutschland setzt sich für mehr Mehrheitsentscheidungen in der EU ein. Das bedeutet dann aber auch, dass wir im Falle des Falles anerkennen müssen, dass wir bei einigen Entscheidungen keine Mehrheit für unsere Position haben.“ In der Taxonomie-Debatte sehe er nicht, „wie sich das noch abwehren ließe“.

Dass vor allem Frankreich nicht gewillt ist, von der Atomkraft abzulassen, zeichnet sich seit vielen Jahren ab. So hat die Atomaufsicht des Landes im April 2020 den Weg für die Verlängerung der Laufzeiten der französischen Meiler von 40 auf 50 Jahre freigemacht. Zur Bedingung machte die Autorité de Sûreté Nucléaire damals allerdings eine Reihe von teuren Reparaturen, um die Sicherheit zu erhöhen und das Risiko von Nuklearunfällen bei den 32 ältesten Reaktoren so weit wie möglich zu minimieren.

Viele alte AKW in Frankreich stehen still

Frankreich ist auf Kernkraft angewiesen, da es über 70 Prozent seines Stroms aus der Atomkraft bezieht. Die Verlängerung betrifft unter anderen das Atomkraftwerk Bugey östlich von Lyon, das seit Ende der 70er Jahre in Betrieb ist. Betroffen sind auch die Reaktoren in Dampierre südlich von Paris und Tricastin nördlich von Avignon, die seit Anfang der 80er Jahre Strom produzieren.

Noch 2015 hatte der damalige Präsident François Hollande angekündigt, innerhalb von zehn Jahren den Atomstrom-Anteil am Energiemix von fast 75 auf 50 Prozent zu senken und zugleich in erneuerbare Energien zu investieren. Doch unter Präsident Emmanuel Macron wurde diese Frist auf 2035 verschoben. Bis zu diesem Zeitpunkt sollen 14 von insgesamt 58 Reaktoren heruntergefahren werden.

Atomkraft als „Glücksfall“ für Frankreich

Macron bezeichnete jüngst die Atomkraft als „Glücksfall“ für Frankreich. Er unterstreicht immer wieder, dass die klimaschädlichen CO2-Emissionen nur mit dem Einsatz von Kernenergie zu senken seien. Außerdem sei auf diese Weise die Versorgungssicherheit garantiert. Die Probleme der Sicherheit oder es strahlenden Abfalls werden in Frankreich allerdings nicht allzu prominent diskutiert. Zu den Schwierigkeiten zählt auch, dass in diesen Tagen zwei Kohlekraftwerke hochgefahren werden, weil die Leistung der funktionierenden AKW in kalten Winterwochen nicht ausreichen könnte. Der Grund: zuletzt waren bis zu 17 der insgesamt 56 Reaktoren nicht am Netz. In den meisten Fällen handelte es sich um geplante Wartungsarbeiten. Wegen der Pandemie hatten sich einige Eingriffe verzögert. Seit Oktober wurden zudem vier der leistungsstärksten Reaktoren Frankreichs aus Sicherheitsgründen abgeschaltet. Zwei von ihnen befinden sich in Chooz nahe der belgischen Grenze, die beiden anderen im westfranzösischen Civeaux. Der Betreiber EDF meldete Risse an Schweißnähten und Probleme mit Korrosion.

Frankreich Pannen-Meiler kostet Milliarden

Aber auch der Bau neuer Meiler ist von Pannen begleitet. Der Europäische Druckwasserreaktor (EPR), an dessen Entwicklung anfangs auch Siemens beteiligt war, sollte das Prestigeprojekt der französischen Atomindustrie werden. Doch dann stiegen die Kosten von 3,3 auf mehr als 19 Milliarden Euro, und der Reaktor soll erst mit elf Jahren Verspätung 2023 ans Netz gehen. Es hat mehrfach technische Probleme gegeben. Unter anderem müssen noch etwa hundert Schweißnähte ausgebessert werden. Der Konzern EDF hat den Bau von sechs weiteren EPR-Reaktoren ins Auge gefasst, was von Kritikern allerdings als gefährliche Illusion abgetan wird.

Große Hoffnung setzt Emmanuel Macron auf eine neue Generation von Mini-Reaktoren (SMR), die in einer Art Modulbauweise zusammengesetzt werden sollen. Die existieren im Moment allerdings vor allem auf dem Papier und sollen frühestens 2035 einsatzfähig sein. Davon müssten zudem mehrere Tausend in Betrieb genommen werden, um den Energiehunger eines Industrielandes zu decken. Die französische Regierung hofft offensichtlich, dass die fehlenden Milliarden Euro an Entwicklungskosten durch die Aufnahme von Atomenergie in die EU-Taxonomie in die Kassen gespült werden. Die Fragen, wie es um die Sicherheit und die Lagerung des anfallenden Atommülls steht, sind auch bei diesen SMR-Anlagen nicht geklärt. Aus all diesen Gründen sind auch diese Mini-Reaktoren ein eher zweifelhaftes Versprechen auf eine nachhaltige Zukunft.