Hat der ehemalige FDP- und heutige AfD-Fraktionssprecher Bernd Klingler Geld vom Konto der Ratsfraktion abgezweigt, um eigene Liquiditätsprobleme zu überbrücken? Viele Indizien sprechen dafür.

Stuttgart - Es ist nicht immer alles so, wie es auf den ersten Blick erscheint.“ Mit diesem Satz hatte Bernd Klingler, der wegen Untreue angeklagte frühere FDP-Fraktionschef im Gemeinderat, sein Schlusswort am zweiten Verhandlungstag vor dem Cannstatter Amtsgericht eingeleitet. Prozessbeobachtern drängt sich nach dem bisherigen Verlauf des Verfahren eher der Eindruck auf, dass da einer vor Gericht steht, dem der schöne Schein stets wichtiger war als das Sein. Großes Auto (wenn auch nur geleast), mehrfacher Immobilienbesitzer, Großsponsor bei den Stuttgarter Kickers und Mitglied zahlreicher Vereine, ein Hansdampf in allen Gassen – das war Klinglers Welt. Die Fassade des politischen Zampanos, der neben seiner beruflichen Tätigkeit als Inhaber einer gut gehenden kleinen Werbeagentur für seine ehemalige Partei auf jeder Hocketse und jedem Heckenbeerlesfest um Wählerstimmen warb und beruflich wie politisch alles im Griff zu haben glaubte, hat tiefe Risse erhalten.

 

Unbestritten ist, dass Klingler seit seinem Aufstieg zum Fraktionschef der Liberalen 2011 der darniederliegenden FDP wieder mehr politisches Profil verschafft hat. Nahezu im Alleingang rettete er seiner Partei durch unermüdlichen Einsatz im Wahlkampf bei der Kommunalwahl 2014 den Fraktionsstatus im Gemeinderat – er war „der Macher“ in der FDP, wie es sein Rechtsanwalt vor Gericht formulierte. Der Rest der Fraktion, das haben mehrere Ex-Stadträte vor Gericht eingeräumt, verließ sich blindlings auf „den Bernd“ oder war, wie der heutige FDP-Sprecher Mathias Oechsner eingestand, „einfach faul“. Diese Omnipotenz wurde Klingler zum Verhängnis, sein eigenmächtiges Hantieren mit Fraktionsgeldern brachte ihn vor den Kadi. Nach Überzeugung der Anklage hat er sich beim Umgang mit Steuergeld aber nicht nur in der Grauzone der Parteienfinanzierung und jenseits des Haushaltsrechts bewegt, sondern sich der Untreue schuldig gemacht.

Hat Klingler den Auftrag für 80 000 Werbeflyer nur vorgetäuscht?

Die Geschichten, die der mittlerweile zur rechtspopulistischen AfD übergetretene Stadtrat auftischte, klingen – auch wenn jedes Wort wahr wäre – oft allzu fantastisch und hinterlassen mehr Fragen als Antworten. Da wären zunächst jene 23 500 Euro, die Klingler 2013 vom Fraktionskonto für Druck und Verteilung von 80 000 FDP-Werbeflyern vor der Kommunalwahl 2014 an eine Agentur im Stuttgarter Westen überweisen ließ – und die noch am selben Tag auf sein eigenes Geschäftskonto zurückflossen. Warum, so fragt man sich, hat er eigenmächtig den Auftrag an eine angebliche Werbeagentur vergeben, die weder einen Internetauftritt noch eine zugehörige Telefon- oder Faxnummer vorzuweisen hat und deren Inhaberin im Gewerberegister als Zimmervermittlerin firmierte? Ausweislich der Kontoprüfungen der Kriminalpolizei unterhielt diese Agentur nahezu ausschließlich Geschäftsbeziehungen zur FDP – und die überwiesenen Beträge landeten nicht nur im vorliegenden Fall am Ende auf dem Konto des Angeklagten. Klinglers Version, es habe sich dabei um in der Werbebranche übliche verdeckte Provisionsrückzahlungen – genannt Kickback – gehandelt, klingt ohne Belege wenig glaubwürdig.

Ist Michela G. ein „Phantom“, eine Strohfrau, wie die Staatsanwaltschaft meint? Klingler will die Frau auf dem Volksfest zufällig kennen gelernt haben. Sie ist eine Verwandte der früheren SÖS-Stadträtin Maria-Lina Kotelmann, zu der Klingler immer ein enges Verhältnis nachgesagt wurde und die seit 2012 auf Teilzeitbasis in seiner eigenen Werbeagentur beschäftigt ist. Hat Kotelmann vielleicht den Deal zwischen ihrem Arbeitgeber und der Cousine eingefädelt? Die angebliche Agentur hatte jedenfalls ihren Sitz in einem Haus an der Reinsburgstraße, in dem auch Kotelmann zeitweise wohnte und das ihrem Bruder gehört. Warum ist Michela G., der Klingler die Hälfte der Rechnung aus eigener Tasche vorgestreckt haben will, um ihr 2013 die Heimkehr nach Italien zu ermöglichen, nicht vor dem Amtsgericht erschienen oder hat wenigstens Lieferschein, Auftrag und Rechnung für den Druck der 80 000 Werbeprospekte vorgelegt? Das hätte Klingler in einem wesentlichen Punkt der Anklage entlastet.

Viele Indizien sprechen gegen den Angeklagten – Zweifel bleiben

Zweifelhaft erscheint nach den Ermittlungen der Kriminalpolizei auch Klinglers Behauptung, er habe im Jahr 2014 12 500 Euro aus der Fraktionskasse genommen, das Geld aber nicht für eigene Zwecke verwendet; vielmehr habe er den Betrag in seinem Büro in einer Tupperbox im Tresor aufbewahrt. Dort sei es sicherer gewesen – und vor allem immer griffbereit. Klingler war der Aufforderung seiner Kollegen, das Geld sofort zurückzahlen, zwar nachgekommen; dass er am selben Tag aber eine Summe von seinem Konto abgehoben hatte, die in den letzten drei Ziffern exakt mit dem Rückzahlungsbetrag übereinstimmte, nährt nicht nur in der Partei den Verdacht, dass er für private Zwecke Teilbeträge aus der Fraktionskasse entnommen haben könnte, um eigene Liquiditätsengpässe zu überbrücken. Sein von den Ratskollegen damals abgelehntes Angebot, mit ihnen sofort in die Agentur zu fahren und den Restbetrag aus dem Safe zu holen, erscheint manchem Liberalen im Nachhinein als Bluff: Eine Tupperschüssel hat Klingler im Gerichtssaal zwar vorgezeigt, bei der Durchsuchung seines Büros durch die Polizei wurde aber kein Tresor gefunden.

Viele Indizien sprechen gegen den Stadtrat. Dass das ehemalige FDP-Mitglied Heinz Heim vor Gericht Klinglers Version von einer FDP-internen Intrige stützte, indem er dessen früheren und mittlerweile verstorbenen Parteiintimus Heinz Lübbe mit der Aussage zitierte, er dürfe zu dem Thema nichts mehr sagen, das habe man ihm von „ganz oben“ bedeutet, kann die vielen Ungereimtheiten nicht übertünchen. Einen schlagenden Beweis für die Vorwürfe gegen Klingler gibt es freilich nicht. In Strafprozessen gilt in Deutschland der Grundsatz: Im Zweifel für den Angeklagten. Wie groß die Zweifel der Amtsrichterin sind, wird sich am Dienstag zeigen: Dann wird das Urteil gesprochen.