Depression, ADS, Adipositas: In Wangen gibt es eine Rehaklinik, die Kindern und Jugendlichen dabei helfen soll, sich selbst zu helfen.

Wangen - Irgendwann konnte Ludmilla (alle Namen geändert) nicht mehr. Täglich hatte die 18-jährige Schülerin Bauchschmerzen, Durchfall, Magenkrämpfe. Sie konnte kaum noch etwas essen. Doch kein Mediziner konnte eine körperliche Ursache für ihr Unwohlsein entdecken.

 

Dabei ging es ihr ständig schlechter, ihre Fehlzeiten in der Schule wurden immer länger. Seit Frühjahr konnte die Zwölftklässlerin aus Nordrhein-Westfalen den Unterricht nicht mehr besuchen. Das wirkte sich auch auf ihr Umfeld aus. Sie sah ihre Freunde kaum noch, war meist allein und wurde depressiv. Ludmilla hatte kein normales Leben mehr. Ihre Krankheit wirkte sich auch auf das Familienleben aus, ihre Geschwister fanden, die Eltern kümmerten sich zu wenig um sie. Aber die organischen Beschwerden waren da. Und es wurde immer klarer, dass sie psychische Ursachen haben mussten.

"Hierher zu kommen, war die beste Entscheidung"

Ihr wurde eine Rehabilitation empfohlen, so kam sie nach Wangen im Allgäu. Sechs Wochen sollte sie in den Fachkliniken bleiben, eine von gut 60 Rehaeinrichtungen für Kinder und Jugendliche in Deutschland. Schon nach drei Wochen war alles anders. Der regelmäßige Tagesablauf, zweimal pro Woche Frühsport, Schwimmen, dazu ein Yogakurs sowie therapeutische Einzel- und Gruppengespräche - das alles tat ihr gut. Heute sind die Bauchschmerzen nicht ganz weg, aber sehr in den Hintergrund getreten. "Mir geht es viel besser", sagt die junge Frau. Sie kann wieder lachen, ja sogar strahlen. Selbst ihre Fehlzeiten in der Schule konnte sie wettmachen. Denn zu den Fachkliniken gehört mit der Heinrich-Brügger-Schule eine staatlich anerkannte Bildungseinrichtung für alle Schultypen. "Hierher zu kommen, war die beste Entscheidung", sagt Ludmilla.

So wie ihr soll es bald noch mehr chronisch kranken Kindern im Südwesten gehen. Die Deutschen Rentenversicherung (DRV) in Baden-Württemberg hat dieser Tage mit den Landesverbänden der Kinder- und Jugendärzte sowie der Kinder- und Jugendpsychiater Vereinbarungen mit dem Ziel geschlossen, die Zahl der Rehaanträge im Land deutlich zu steigern. Entsprechende Gespräche mit dem Verband der Hausärzte würden ebenfalls geführt, sagte Ulrich Hartschuh, der in Stuttgart für das Rehabilitations-Management der DRV zuständig ist. Der Rentenversicherungsträger beobachtet mit Sorge, dass weniger Aufenthalte von Kindern in Kur- und Rehabilitationseinrichtungen genehmigt werden. So stellten die Ärzte allein in diesem Jahr zehn Prozent weniger Anträge. Im vergangenen Jahr waren deutschlandweit 34000 Anträge bewilligt worden, davon allein 3000 in Baden-Württemberg. Mit Aufklärung und finanziellen Anreizen will der Kostenträger die Mediziner animieren, wieder mehr Anträge zu schreiben. Davon hat auch die DRV etwas. "Wir brauchen gesunde junge Menschen, die im Wirtschaftsleben integriert sind und als Beitragszahler infrage kommen", sagt Hartschuh.

Lernen mit den Eigenschaften zu leben

Neben den Fachkliniken Wangen, die sich auf Atemwegserkrankungen und psychosomatische Störungen spezialisiert haben, gibt es die Kinderkrebs-Nachsorgekliniken in Tannheim und in Schönwald (beide im Schwarzwald-Baar-Kreis) sowie die auf Familienrehabilitation orientierte Rehaklinik Kandertal (Kreis Lörrach) und das Hegau-Jugendwerk Gailingen (Kreis Konstanz), das sich um neurologisch kranke Kinder und Jugendliche kümmert.

Die größten ihrer Art im Südwesten sind jedoch die Fachkliniken Wangen, wohin jedes Jahr 1600 Kinder und Jugendliche im Alter von ein bis 18 Jahren allein oder in Begleitung ihrer Eltern kommen. Die meisten Patienten machen ähnlich gute Erfahrungen wie Ludmilla. So zum Beispiel Julia, die Adipositas, Asthma und Depressionen hat. Die 16-Jährige leidet unter der Trennung der Eltern, hat kein Selbstbewusstsein und wird wegen ihrer Figur in der Schule gemobbt. Zusammen mit ihrer Mutter lebt sie von Hartz IV, außerdem muss sie ihre Schwester mit Down-Syndrom pflegen. In Wangen lebte die schüchterne Jugendliche auf, denn hier ging es nur um sie. Die Wirtschaftsschülerin trieb viel Sport, nahm sieben Kilo ab und holte Unterrichtsstoff nach. "Ich will hier nicht mehr weg", sagt Julia.

Ähnliche Erfahrungen machte der gleichaltrige Gökan aus Hessen. Der türkischstämmige Jugendliche war abwechselnd fettsüchtig und nach extremen Hungerkuren und exzessivem Sport wieder schlank. Tatsächlich leidet er seelisch sehr unter der Trennung seiner Eltern und unter seinem herrschsüchtigen Vater. Deshalb hat Gökan seinen Aufenthalt in Wangen selbst organisiert und den Eltern erst Bescheid gesagt, als er den Therapieplatz fest zugesagt bekommen hatte. Ein Blick in Internetforen zeigt, dass viele andere junge Patienten in Wangen ähnlich gute Erfahrungen machen. Doch trifft man dort auch auf extrem negative Bewertungen von Eltern, deren Kinder und Jugendliche unter der Aufmerksamkeitsdefizitstörung ADS oder ADHS leiden. "Die Eltern haben oft übertriebene Erwartungen an einen Klinikaufenthalt", erläutert Kliniksprecher Alwin Baumann. Bei dieser Diagnose sei es in der Regel so, dass die Patienten begreifen müssten, dass es Heilung im klassischen Sinne nicht gebe. Die jungen Menschen müssten lernen, mit den Eigenschaften zu leben und umzugehen. Eine Rehabilitation könne da nur Hilfestellungen leisten.

Finanzielle Anreize für Kinderärzte

Geschichte Die Fachkliniken Wangen sind eine von 60 Rehabilitationskliniken für Kinder und Jugendliche in Deutschland. 1928 wurden sie unter Leitung des Lungenfacharztes Heinrich Brügger gegründet. Heute sind sie ein Teil der Waldburg-Zeil-Kliniken. Ihr gehören Kliniken für Internistische und Pädiatrische Pneumologie, Allergologie, Thoraxchirurgie, Neurologie und Kinderrehabilitation an.

Diagnose Die Deutsche Rentenversicherung (DRV) schickt aus ganz Deutschland in der Regel chronisch kranke Kinder und Jugendliche nach Wangen. Sie leiden oft an Atemwegserkrankungen wie Asthma und Mukoviszidose, aber auch an Neurodermitis, Adipositas oder Aufmerksamkeitsdefizitsydrom. Die Patienten bleiben in der Regel vier Wochen in der staatlich anerkannten Einrichtung. Hier gehen sie zur Schule, treiben Sport und werden medizinisch und therapeutisch betreut. Allein im Vorjahr hat die DRV 34.000 solcher Maßnahmen veranlasst, 3000 davon allein in Baden-Württemberg.

Belegung Seit zwei Jahren werden weniger Kuren für Kinder und Jugendliche genehmigt – auch weil die Allgemein- und Kinderärzte etwa zehn Prozent weniger Anträge stellten. Dieser Entwicklung will die DRV mit ihrem Modellprojekt entgegenwirken. Dem einweisenden Arzt werden unter anderem finanzielle Reize geboten. So werden die Gespräche bei der Einweisung und nach der Rehabilitation bezahlt.