In die Notaufnahmen der Stuttgarter Krankenhäuser kommen immer mehr Patienten – auch immer mehr, die aus Sicht der Mediziner keine Notfälle sind.

Stuttgart - Der Warteraum vor der Notaufnahme des Marienhospitals ist gut gefüllt. Über einen Bildschirm flimmern kurze Filme. Keiner redet. Im Flur der Notaufnahme warten noch einmal eine Handvoll Patienten auf ihre Anmeldung oder auf die Weiterbehandlung. Auf dem Computerbildschirm von Otto Tschritter, dem leitenden Oberarzt der Notaufnahme, tauchen alle paar Minuten neue Namen und neue Beschwerden auf. 13.23 Uhr: Patient, der nach einer kurzen Durchblutungsstörung im Kopf Lähmungserscheinungen im Bein verspürt. 13.27 Uhr: Mann mit Verletzung am Zeh. 13.29 Uhr: Frau mit Verdacht auf Beckenringfraktur. 13.42 Uhr: ein Mann, der aufs Gesicht gefallen ist. 13.48 Uhr: eine Frau mit anhaltenden Kopfschmerzen. 13.59 Uhr: eine Patientin mit Lähmungserscheinungen im linken Bein. „Wir versorgen an normalen Tagen sechs bis zehn Patienten in der Stunde. In 24 Stunden kommen wir auf 80 Patienten, an  Spitzentagen auf bis zu 120“, erzählt Tschritter. Tendenz steigend. Wurden 2011 in der Notaufnahme des Marienhospitals noch 16 700 Patienten versorgt, so waren es im vergangenen Jahr bereits 24 660 Menschen. In der Notaufnahme des Robert-Bosch-Krankenhauses ist die Zahl im selben Zeitraum von 25 669 Patienten auf 36 206 gestiegen. In die Interdisziplinäre Notaufnahme des städtischen Klinikums kamen 2012 noch 27 135 Menschen, im vergangenen Jahr waren es bereits 31 127.

 

Menschen werden immer älter und immer kränker

Ein wichtiger Grund, warum immer mehr Menschen in den Notaufnahmen landen, ist die demografische Entwicklung. Die Menschen werden immer älter und mit zunehmendem Alter auch immer kränker. Aber es gibt auch andere Faktoren, die eine Rolle spielen: Immer mehr Operationen werden ambulant gemacht. Wer hinterher Beschwerden hat, sucht schon mal Hilfe in der nächsten Notaufnahme. Was sich nach Ansicht von Dominik Alscher, dem Ärztlichen Direktor des Robert-Bosch-Krankenhauses (RBK), zudem bemerkbar macht, ist der Hausärztemangel in den Randgebieten von Stuttgart. „Zu unserem Einzugsgebiet gehören Stammheim, Feuerbach und Zuffenhausen, wo wir schon jetzt ein Defizit an Hausärzten sehen. Das führt dazu, dass der ein oder andere direkt in die Notaufnahme kommt, weil er keinen Hausarzt mehr hat.“ Alscher sieht aber auch kulturelle Unterschiede. „Stuttgart wird immer internationaler. In vielen Kulturen ist das Krankenhaus primärer Ansprechpartner.“

Patienten kommen gezielt in die Notaufnahme

Es kommen überdies immer mehr Patienten, die aus Sicht der Mediziner gar keine Notfälle sind und die deshalb einen niedergelassenen Arzt ansteuern müssten. Wegen eines Schnupfens in die Notaufnahme? „Selbst das kommt vor. Wir haben aber auch Patienten, die am Samstag in die Notaufnahme gehen, weil sie gerade da Zeit haben. Oder die Sonntag wegen einer Erkältung kommen, weil sie für Montag noch eine Krankmeldung wollen“, sagt Jürgen Graf, der Ärztliche Direktor des städtischen Klinikums. Andere Patienten kommen, weil sie wissen, dass sie in der Notaufnahme eine Untersuchung schnell bekommen, auf die sie beim Facharzt lange warten müssten. „Auf ein neurologisches Konsil muss ich ein halbes Jahr warten. Gehe ich in die Notaufnahme, bekomme ich es am nächsten Tag“, erklärt Graf, der nicht ausschließt, dass deshalb vielleicht sogar der eine oder andere Kollege den Gang in die Notaufnahme empfiehlt.

Krankenhäuser schicken Patienten nicht weg

Der Ärztliche Direktor des städtischen Klinikums schätzt, dass 20 Prozent der Patienten aus der Interdisziplinären Notaufnahme (Ina) keine Notfälle sind. Die Krankenhausgesellschaft spricht sogar von einem Drittel. Weggeschickt werden die Patienten dennoch nicht, wie etwa Otto Tschritter vom Marienhospital deutlich macht. „Das machen wir nur in den seltensten Fällen, etwa, wenn es sich um einen normalen grippalen Infekt handelt, wir schnell zu einem Hausarzt in der Nähe vermitteln können und wir sehen, dass der Patient einverstanden ist.“ Auch Dominik Alscher vom RBK rät davon ab, Patienten abzuweisen: „Für einen Patienten ist es schwer einzuschätzen, ob ein Notfall vorliegt, vor allem, wenn man Schmerzen hat.“

Den Stuttgarter Krankenhäusern bereitet die Entwicklung Kopfschmerzen. Aus einem einfachen Grund: die Kliniken bekommen die ambulanten Fälle nicht kostendeckend vergütet, die Notaufnahmen machen Defizite. Eindrücklichstes Beispiel in Stuttgart ist das städtische Klinikum, das im vergangenen Jahr ein Defizit von 24 Millionen Euro angehäuft hat, davon gehen zwölf Millionen auf das Konto der Ambulanzen, zu denen die Ina zählt. Aber auch im Marienhospital und im RBK sind die interdisziplinären Notaufnahmen defizitär. „Wir bekommen die gleiche Vergütung wie die niedergelassenen Ärzte für einen Notfall. Wir haben aber als Krankenhaus viel höhere Vorhaltekosten“, sagt Graf. Nach Angaben der Deutschen Krankenhausgesellschaft stehen dem durchschnittlichen Erlös von 32 Euro pro ambulantem Notfall Fallkosten von mehr als 120 Euro gegenüber.

Kliniken haben höhere Kosten

Die höheren Vorhaltekosten liegen in der Struktur der Krankenhäuser begründet, die 24 Stunden am Tag Patienten versorgen. Sie hängen aber auch damit zusammen, dass in den Notaufnahmen eine Reihe an Untersuchungen Standard sind, auf die der niedergelassene Arzt im Zweifel verzichtet. „In den meisten Fällen machen wir eine Laboruntersuchung, ein EKG, messen die Sauerstoffsättigung und den Blutdruck. Dazu kommt die körperliche Untersuchung“, sagt Otto Tschritter.

Bei der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Baden-Württemberg stellt der stellvertretende Vorsitzende Johannes Fechner denn auch nüchtern fest: „Die Krankenhäuser machen zu viel pro Einzelfall.“ Die KV ist es, die die ambulanten Leistungen der niedergelassenen Ärzte, aber auch der Krankenhäuser vergütet. Laut Fechner müssten die Krankenhäuser doch den einen oder anderen Patienten wieder wegschicken. „Grundsätzlich aber sind wir mit den Krankenhäusern darin einig, dass die Notfallversorgung zu schlecht vergütet ist. Da ist die Politik gefragt“, so Fechner.