Sandra Richter ist Germanistikprofessorin an der Universität Stuttgart, bereits mit 29 Jahren war sie eine international gefragte Professorin -  im Laufe ihrer Karriere hat sie schon so manchen Mount Everest der Literatur bestiegen.

Stuttgart - Zur Jahrtausendwende ist Sandra Richter die Idee gekommen, den Mount Everest zu besteigen. Nicht jenen höchsten aller Berge im Himalaja. Sie zog es auf den Mount Everest der Literatur. Als solcher wird Marcel Prousts Jahrhundertroman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ gerne bezeichnet: ein literarisches Hochgebirge, das nur schwer zu erklimmen ist. Zehn Jahre lang hat Proust an seinem siebenteiligen Romanzyklus geschrieben, in dem ein ganzes Universum entfaltet wird. Nicht ganz so lange hat die Literaturprofessorin der Universität Stuttgart gebraucht, um das eher unhandliche Epos zu durchblättern. Seite um Seite, Kapitel um Kapitel, Buch um Buch.

 

Im Leben der belesenen Stuttgarterin sucht man unterdessen vergeblich nach verlorener Zeit. Sandra Richter hat politische Wissenschaft studiert, Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte, danach in Neuerer Deutscher Literatur promoviert und zum Thema „Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke“ habilitiert – und das in einem atemberaubenden Tempo. Mit 29 war das „Mädchen vom Land“ bereits eine international gefragte Professorin. „Eine Persönlichkeit“, wie ihr in der Laudatio bei der Verleihung des Heinz-Maier-Leibnitz-Preises im Jahr 2005 attestiert wurde, „die ihre außergewöhnliche Leistung aus geistiger Offenheit und Beweglichkeit gepaart mit hoher Begabung und Originalität kreiert.“

Die so Dekorierte selbst beurteilt ihren akademischen Hürdenlauf in Bestzeit, den sie auf allen Etappen mit Topnoten abgeschlossen hat, eher nüchtern. „Wenn man alles selber finanzieren muss, dann macht man eben so schnell, wie es geht“, sagt Sandra Richter, die seit 2008 als W3-Professorin die Abteilung Neuere Deutsche Literatur an der Universität Stuttgart leitet – und damit die Nachfolgerin von Heinz Schlaffer ist. Noch heute kommt der berühmte Professor, der sich mit Aufsehen erregenden Essays wie „Die kurze Geschichte der deutschen Literatur“ einen Namen gemacht hat, gelegentlich zu einem Plausch bei ihr vorbei. „Wir spotten dann ein bisschen übereinander“, sagt sie.

Morallehre der Hugenotten und poetologische Gedichte

Aufgewachsen ist Sandra Richter in Fuldatal bei Kassel, dem Tor zum Reinhardswald, wie das Örtchen gerne beworben wird. Schon als Kind hat es sie aber mehr in die kleine Stadtbücherei gezogen auf der Suche nach Lesestoff. „Lesen gefährdet die Dummheit“, heißt es manchmal in den Schaufenstern der Buchläden. Sandra Richter hat das wörtlich genommen. Schon vor dem Unterricht verschlang sie so viele Kapitel wie möglich, und auch nach der Schule suchte sie die Abenteuer weniger draußen in der Landschaft als drinnen in ihren Büchern.

In späteren Lesestunden, als die Bibliotheken immer größer wurden, hat sich Sandra Richter mit vergessenen Autoren beschäftigt, mit geistesgeschichtlichen Lücken, mit der Morallehre der Hugenotten und mit poetologischen Gedichten. Zuvor hatte sie bereits die intensive Bekanntschaft eines gewissen Theodor W. Adorno gemacht, mit dem sie gewissermaßen aufgewachsen ist und aus dessen Minima Moralia der berühmteste seiner Sätze stammt: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Sagt Adorno. „Ich wollte das nicht einfach so stehen lassen“. Sagt Sandra Richter. Also hat sie der Gedankenlyrik des deutschen Philosophen ein viel beachtetes Buch entgegengesetzt: „Lob des Optimismus. Geschichte einer Lebenskunst“. Gedacht war das Werk als Versuch, den Optimismus als verantwortungsvolle Kunst des Lebens zu erneuern. „Sandra Richter erklärt in bester Germanistenprosa“, urteilte ein Kritiker, „warum hierzulande das Glas immer nur halb leer ist.“

Ihres dagegen ist immer kurz vor dem Überlaufen. Ihr tägliches Pensum ist enorm, trotzdem hat sie sich ihre Leidenschaft für Gedrucktes bewahrt. Wörter, Sätze, Kapitel fliegen an ihr vorbei wie die Landschaften am Zugfenster, aus dem Sandra Richter bei ihren häufigen Fahrten aber nur selten schaut. Ihr Mann, der Anwalt ist und selber gerne liest, amüsiere sich mitunter darüber, so erzählt sie, dass er mit einer Frau verheiratet sei, welche sich auf die Kunst verstehe, Bücher in ihren Kopf zu scannen. Hat sie einmal keines zur Hand, schaltet sie das E-Book ein, ihre Ersatzdroge, so Sandra Richter.

Neben ihrem Amt an der Uni doziert sie für die Wochenzeitung „Die Zeit“ in einer Seminarreihe über deutsche Gegenwartsliteratur und schreibt Essays, um Menschen für Bücher zu begeistern. Für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ rezensiert die Stuttgarter Literaturprofessorin schon seit vielen Jahren die neuesten Werke auf dem Büchermarkt. Zu Hause stapelt sich daher Literatur aller Art, die gelesen werden will.

Die Magie der Buchstaben

Demnächst ist „Der Räuber Hotzenplotz“ an der Reihe. Und „Die schöne Lau“. Hans Christian Andersens „Prinzessin auf der Erbse“, „Die kleine Meerjungfrau“ und „Peter Rabbit“. All die liebenswerten Helden ihrer eigenen Kindheit, deren Abenteuer und Geschichten sie nun ihrer kleinen Tochter vorlesen will, deren Sinne für die Magie der Buchstaben bereits geschärft sind. Künftig nur noch Windeln zu wechseln, wäre trotz aller Liebe und Mutterglück aber nichts für Sandra Richter, weshalb sie sich acht Wochen nach der Geburt der Tochter im September 2010 schon wieder am Lehrstuhl und bei ihren Studenten zurückgemeldet hat. Zuvor hatte sie bei der Verwaltung der Hochschule angerufen, um über den Zuwachs in der jungen Familie zu informieren. „Glückwunsch“, bekam sie am Telefon zu hören. „Und das, obwohl Sie Professorin sind.“

„Kinder finden im Nichts das Gesamte, die Erwachsenen im Gesamten das Nichts“, schrieb einst der italienische Dichter Giacomo Leopardi. Weshalb Sandra Richter im kommenden Februar trotz des anspruchsvollen Jobs ein zweites Kind erwartet. „Wir brauchen die Frauen in der Wissenschaft ebenso wie ihre Kinder, da gibt es noch viel zu tun“, sagt sie. Ganz einfach ist es angesichts von 60-Stunden-Wochen zwar nicht, den Alltag zu organisieren. „Ich bin in Haushaltssachen erfreulich tatenlos.“ Aber schließlich gibt es eine Kinderkrippe, die chinesische Nanny, die der Tochter gerade Mandarin beibringt, und nicht zuletzt natürlich die Großeltern.

Wenn sie gerade nicht auf ihrem Trampelpfad zwischen dem Lehrstuhl in der Keplerstraße und der Württembergischen Landesbibliothek unterwegs ist, geht die Musikliebhaberin, die leidenschaftlich Saxofon spielt, gerne in die Oper. In Stuttgart oder anderswo. Als Literaturprofessorin ist sie auch im Ausland gefragt, hält Vorlesungen und Vorträge. In London beispielsweise, wo sie am King’s College ihre erste Professur innehatte, in Paris, Los Angeles, Dublin, Toulouse oder zuletzt an der Harvard University in Cambridge. Ihre nächste Auslandsreise führt die Stuttgarter Professorin nach Philadelphia, wo sie an der University of Pennsylvania eine dreimonatige Gastprofessur angenommen hat.

Beraterin der Regierung

Seit 2011 ist Sandra Richter zudem Mitglied im Wissenschaftsrat. Als eine von 24 berufenen Wissenschaftlern berät sie dabei die Bundesregierung in Fragen inhaltlicher und struktureller Entwicklung der Hochschulen. Bis zu 40 Termine pro Jahr kommen dabei zusammen, jedes Mal in einer anderen Stadt in Deutschland. Bei allem Ruhm, allen Auszeichnungen und allem Lob hat sie sich einen unverklärten Blick auf die Dinge bewahrt. „Erfolg hat auch mit Frustrationsresistenz und Sturheit zu tun“, sagt sie. „Ohne Begeisterung für die Sache hält man aber nicht durch.“

Bei Goethe fällt ihr das nicht schwer, der trägt in allen Stunden. Gerade wurde in Frankfurt eine Ausstellung über den Dichterfürsten und das liebe Geld eröffnet, die Sandra Richter mitkuratierte. Und als wäre das alles nicht schon genug, ist gerade ihr Buch „Mensch und Markt“ erschienen. Darin geht sie der Geschichte des wirtschaftlichen Wettbewerbs aus literarischer Sicht nach, von der Schlachtordnung im Mittelalter bis zur heutigen Rabattschlacht. Für ihren Befund hat sie sich durch Berge von Büchern gearbeitet. Lesen. Lesen. Lesen. Für eine wie Sandra Richter alles andere als verlorene Zeit.