Karin Beier eröffnet im Hamburger Schauspielhaus die Saison mit „König Lear“. Edgar Selge in der Titelrolle hilft ihr dabei – und die Stuttgarter Version von Claus Peymann erscheint plötzlich in neuem Licht.

Stuttgart - Vater ist den Töchtern lästig. Zu launig ist der Alte, zu selbstverliebt, zu fordernd und mit seinem Hofstaat von hundert Rittern auch viel zu teuer, um ihn weiter als Schmarotzer im Palast zu dulden. Deshalb schieben Goneril und Regan den greisen König zwischen ihren Häusern hin und her und am Ende auch mitleidlos ab. „Jetzt reicht es, Papa, hast Du das verstanden?“, bellt Regan, die jüngere der beiden Schwestern, ihren Erzeuger an und befiehlt im barschen Ton der Erziehungsberechtigten einen Rollstuhl herbei: Wer nicht hören will, muss fühlen – und wenn Papa nicht gebrechlich werden will, muss er mit Zwang gebrochen und in den Rolli gepresst werden, damit er gesellschaftlich legitimiert aus den Augen, aus dem Sinn geschoben werden kann: In Hamburg eröffnet die Intendantin Karin Beier mit einem billigen, flachen Kommentar zum Pflegenotstand ihre Saison am Schauspielhaus.

 

Auf dem Programm freilich steht ein Stück, aus dem Gewaltigeres herauszukitzeln wäre als nur ein Beitrag zur aktuellen Sozial- und Gesundheitsdebatte: Shakespeares „König Lear“ ist die in finstersten Nihilismus getauchte Tragödie vom Herrscher ohne Land, der sein Leben auf einem Leichenberg aushaucht und in Hamburg von Edgar Selge verkörpert wird. Die Konstellation ist perfekt, haben Selge und Beier doch am gleichen Ort für den größten Theatererfolg der vergangenen Jahre gesorgt. Als Ausnahmespieler und Ausnahmeregisseurin verwandelten sie Houellebecqs „Unterwerfung“ in ein furioses Solo über den Opportunismus eines Intellektuellen, der Gefallen findet an der Islamisierung Frankreichs. Das war 2016 ein später auch zu Fernseh-Ehren gekommener Triumph, von dem sie jetzt meilenweit entfernt sind. Für „König Lear“, die ganze Tragödie mit vielköpfigem Personal, fehlt Beier ein den Generationenkonflikt übersteigendes Konzept – und Selge die zündende Idee, um den in die ewige Nacht taumelnden, dem Wahnsinn ergebenen Titelhelden nicht nur als traurigen Sozialfall zu zeichnen. Denn Shakespeares König ist mehr: Er ist eine launige Naturgewalt.

Der kleine Beamtenkönig a. D.

Auf der weißen, nach vorne geneigten, hermetisch dichten Kubusbühne von Johannes Schütz schleicht Selge als mausgrauer Ruheständler an der Wand entlang, gebeugt wie ein Fragezeichen, ohne Krone auf dem Haupt, dafür mit Billiganzug am Leib: ein König, zum mickrigen Beamten a. D. verkleinert, der sein Erbe regeln und das Reich unter seinen drei Töchtern aufteilen will. Doch weil die jüngste von ihnen, die aufrichtige Cordelia, beim Liebesschwur versagt, jagt er sie vom Hof und begibt sich in die Hände der heuchlerischen Goneril und Regan – mit verheerenden Folgen für das Reich, aber auch für den König selbst, der sich bald in grenzenloser Einsamkeit, Bitterkeit, Verzweiflung, Hybris auflöst und verliert. Mit Stadttheater-Routine ist diesem ins Existentielle ragende Zerfall nicht beizukommen. Aber genau darauf, auf seine auch in Stuttgart erprobte, gelenkige Wort- und Körpersprache greift Selge für seinen Alltags-Lear zurück – und raubt dem König damit das, was seinen Reichtum ausmacht: die monströse Singularität.

Neben Selge stehen noch drei weitere Spieler auf der Bühne, die aus Stuttgart kommen: Samuel Weiss, einst Jungstar im Ensemble von Friedrich Schirmer, sowie Matti Krause und Sandra Gerling, die Armin Petras ins Schauspiel holte. Und sie, die wunderbare Sandra Gerling, bringt es bei ihrem Hamburger Einstand gleich zur heimlichen Hauptfigur des Abends. Als Edmund mit kurzen Hosen und kohlschwarzen Haaren plärrt sie, an der Rampe stehend und ihrem Stuttgarter Mephisto nicht unähnlich, gelangweilt ihren Weltekel, ihre fade, müde Lust an der Apokalypse ins Publikum. Denn es ist ja so: Bei aller Königsverkleinerung, die Beier verfolgt, sucht sie ihr Regie-Heil auch in angesagten, nicht immer von Shakespeare stammenden Dystopien. Doch die von Gerling und anderen, darunter Lina Beckmann und Ernst Stötzner, aufgerufenen Düsternisse bleiben nichts als grelle, modisch aufgesetzte Nummern in einer stumpf zerfaserten Inszenierung, in der Regie und Hauptdarsteller weit unter ihren Möglichkeiten bleiben.

Als Zuschauer wohnte auch Claus Peymann der Hamburger Spielzeit-Eröffnung bei. Er kennt sich aus mit „Lear“. Seine im Februar in Stuttgart herausgekommene Version erscheint, im hanseatischen Licht betrachtet, schon beinahe als Glanzstück.