Auch vor jungen Männern macht der zunehmende Körperkult nicht halt. Immer mehr sind von Essstörungen betroffen. Die Erfahrungen der Stuttgarter Beratungsstelle Abas deckt sich mit Zahlen der Krankenkasse AOK.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Marius (Name geändert) hat schon lange keinen Speck mehr auf den Rippen. Gerade wiegt er um die 50 Kilogramm bei einer Körpergröße von 1,80 Metern. Marius ist viel zu dünn – doch er nimmt das nicht wahr. „Er fühlt sich immer noch zu dick“, berichtet die Sozialpädagogin und Systemische Therapeutin Marianne Sieler von der Stuttgarter Anlaufstelle bei Essstörungen Abas. Sie hat Marius klargemacht, dass er dringend eine Therapie machen muss.

 

In der öffentlichen Wahrnehmung gelten Essstörungen als Frauenkrankheiten. Doch auch (junge) Männer sind betroffen – in Stuttgart sogar immer mehr, wie eine aktuelle Auswertung der Krankenkasse AOK Stuttgart-Böblingen ergeben hat. Zwischen 2011 und 2015 hat die Zahl der behandlungsbedürftigen Fälle im Stadtkreis bei ihnen demnach jedes Jahr im Schnitt um 7,3 Prozent zugenommen. Bei Mädchen und Frauen lag die Steigerungsrate nur bei 1,2 Prozent. In absoluten Zahlen haben zwar weiterhin deutlich mehr Mädchen und Frauen Essstörungen, aber der Wunsch, den eigenen Körper zu perfektionieren und zu formen, erfasst eben nicht nur sie. „Schlank und durchtrainiert zu sein wird mit Erfolg und Dynamik gleichgesetzt“, sagt Marianne Sieler – bei Frauen wie bei Männern.

Vor zehn Jahren waren männliche Betroffene Exoten

Marius soll der Beraterin zufolge in die Magersucht gerutscht sein, weil er männlicher und muskulöser aussehen wollte. Er fing an zu trainieren, schraubte auch die Kalorienzufuhr runter, um mehr Energie zu verbrennen, als zu sich zu nehmen. Der Beginn eines Teufelskreises. Das Abnehmen und das Trainieren hätten die Gedankenwelt dominiert, gleichzeitig habe sich Marius verstärkt in sich zurückgezogen und abgekapselt, berichtet Sieler über den Fall. Die soziale Isolation sei typisch, so die Expertin – weniger typisch ist Marius’ Alter. Er ist noch nicht volljährig und geht noch in die Schule. Üblicherweise sind junge Männer laut Marianne Sieler zwischen achtzehn und 24 Jahren, wenn die Erkrankung ausbricht. Bei Mädchen wiederum sei das Zeitfenster 14 bis 18 Jahre besonders problematisch.

Als Marianne Sieler vor etwas mehr als neun Jahren bei Abas angefangen hat, seien dort junge Männer noch absolute Exoten in der Beratung gewesen. Das hat sich geändert. Zwar ist die überwiegende Mehrheit der Betroffenen weiterhin weiblich, aber die Zahl der jungen Männer steige. Im Jahr 2016 machten männliche Betroffene sogar 14 Prozent in der Beratung aus, 2015 habe die Zahl bei sieben Prozent gelegen, so Sieler. Woran der starke Zuwachs liegt, kann sie nicht sagen. Es könnte auch sein, dass sich inzwischen mehr junge Männer trauten, zu der Essstörung zu stehen. Auch könnte das Bewusstsein für das Problem generell zunehmen.

Schulen fragen an zum Thema Körperkult

Die Beratungsstelle „Jungen im Blick“, die einen Stock tiefer als Abas ansässig ist und auch zum gleichen Dachverband gehört, habe seit einiger Zeit vermehrt Anfragen von Schulen, wie mit den Themen Körperkult und Fitnesswahn umgegangen werden könne. „Jungen möchten männlicher und muskulöser aussehen, doch das kann fatale Folgen haben“, sagt Sieler. Ein männlicher Klient, der Bulimie hat, habe sich wegen der hohen Lebensmittelkosten im jungen Alter verschuldet. Magersucht habe sogar von allen psychischen Erkrankungen die höchste Mortalitätsrate – und wenn Männer eine Magersucht entwickelten, so sei diese häufig besonders aggressiv, so die Beraterin.

Marius wird zunächst mit einer ambulanten Therapie versuchen, die Essstörung wieder in den Griff zu bekommen. Sollte das nicht helfen, muss er stationär in eine Klinik. Einen geeigneten Platz zu finden soll allerdings schwierig sein. Wichtig sei, dass nicht nur ein oder zwei Männer gemeinsam mit vielen Frauen in der Gruppentherapie sitzen, betont Marianne Sieler. Aus diesem Grund nehme auch nicht jede Klinik, die auf Essstörungen spezialisiert ist, männliche Betroffene auf.