Die Queen ist gestorben. Sie haben es gerade gebracht.“ Wir sind soeben in unser B&B zurückgekehrt, und Vermieterin Jude, die ich auf Ende dreißig schätze, ist sichtlich erschüttert. Dabei ist sie nicht einmal Britin, sondern kommt aus Australien. „God save the Queen. And the King!“ Sie fängt an zu schluchzen. „Sorry!“ Sie dreht sich um und stürzt aus dem Flur. „Oh dear“, sagt mein Mann, und ich bin nicht sicher, ob er Jude meint oder die Königin. Besonders berührt ist er nicht. Die Queen hat ihm Respekt abgenötigt, das schon, aber vor allem sieht er in diesem ganzen Tamtam eine immense Verschwendung seiner Steuergelder. In den nächsten zehn Tagen erweist sich, dass er mit seiner Meinung ziemlich alleine dasteht. Wir werden Zeugen eines bizarren, sich immer mehr zuspitzenden Dramas. Wer seit über hundert Jahren monarchiefrei lebt, beobachtet das Spektakel mit einer komplizierten Mischung aus Kopfschütteln, Faszination und Heiterkeit.
Ein Tabu!
Da ist zum einen die ungeheure Emotionalität. Gefühlsausbrüche – noch dazu in der Öffentlichkeit! – sind für Briten eigentlich ein Tabu, weil sie das Gegenüber unangenehm berühren könnten. Briten weinen heimlich. Und nun stehen sie plötzlich heulend vor laufenden Kameras, oft im Familienverbund von drei Generationen, und jeder, einfach jeder, hat eine Geschichte zu erzählen. In keiner dieser Geschichten gibt es auch nur einen Hauch von Kritik an der Monarchin. Ihre lebenslängliche Hingabe an die Nation, ihr Pflichtbewusstsein, ihre Freundlichkeit, ihr Humor! Die Medien liefern dasselbe Bild. Selbst die Kolumnisten des linksgerichteten „Guardian“ überschlagen sich, kritische Stimmen gibt es kaum. In der Öffentlichkeit werden diese von der Polizei zum Schweigen gebracht. Als Charles am Sonntag nach dem Tod der Queen im ganzen Land zum König ausgerufen wird, wird in Oxford ein Mann in Handschellen abgeführt, weil er spontan auf der Straße ruft: „Wer hat ihn gewählt?“ Es bleibt nicht der einzige Vorfall dieser Art.
Längst ist die Queen eine Heilige
Es wird immer skurriler. Die Supermarktkette Morrisons stellt den Piepston beim Scannen von Produkten ab, um der Queen Respekt zu erweisen, Marmeladenbrote, die an den Sketch der Queen mit dem (fiktiven!) Bär Paddington erinnern, werden vor Buckingham Palace zum Problem, und der Nationale Radsportverband bittet darum, am Tag der Beerdigung aus Ehrerbietung nicht zu radeln. Und dann ist da „the Queue“, die Schlange, in der Menschen teilweise 24 Stunden quer durch London anstehen. Der Weg zum Sarg der Queen wird zum Pilgerweg, zu einer nationalen Pflicht. Längst ist die Queen eine Heilige.
Am Tag der Beerdigung herrscht draußen gespenstische Stille. 29 von 67 Millionen Briten sitzen vor dem Fernseher, Tausende säumen die Straße, und niemand scheint sich über die seltsamen, jahrhundertealten Rituale zu wundern.