Kinder in die Obhut fremder Bezugspersonen zu geben, ist eine Lektion in Vertrauen. Wenn das Kind einen seltenen Gendefekt hat, fällt das Loslassen noch schwerer.

Leben, Lachen und Leiden mit Kindern geht einher mit einem Crashkurs in Vertrauen. Dabei geht es weniger um das Urvertrauen in die Fähigkeiten der eigenen Kinder, sondern um das Vertrauen in Bezugspersonen außerhalb der Kernfamilie.

 

Das eigene Kind das erste Mal in der Kindertagesstätte abgeben, ist eine schwere Prüfung – auch wenn ich vor dem Berufsstand der Erzieherinnen und Erzieher den größtmöglichen Respekt habe. Nie werde ich das weinende Häufchen Elend vergessen, in das sich mein Sohn zu Beginn seiner Kitazeit verwandelt hat, sobald ich ihn morgens abgeliefert hatte. Dass er heulend zum Abschied am Fenster gewunken hat, hat den Start in den Tag nicht unbedingt geschmeidiger gemacht.

Trockenen Marmorkuchen runterspülen

Das Kind zum ersten Mal beim Kindergeburtstag abliefern, dabei auf die Eltern des Geburtstagskindes vertrauend, ist ebenfalls herausfordernd: Die werden den zu trockenen Marmorkuchen doch hoffentlich erst nach der Sause mit Hochprozentigem herunterspülen. Nicht dass es beim Topfschlagen blaue Augen gibt, weil die Aufsichtspflichtigen leichte Konzentrationsschwierigkeiten an den (Geburts-)Tag legen.

Zum Glück konnten wir die Vertrauensfrage bei unserem Sohn üben. Wer wie wir ein zweites Kind hat, das mit einer Behinderung aufwächst, muss mehr Vertrauen in die Welt haben, als einem lieb ist. Unsere Tochter hat einen seltenen Gendefekt, der sich im Verlust der Sprache und einer Autismus-Spektrum-Störung äußert. Das Mädchen hat vielleicht noch zehn Wörter übrig, um sich zu verständigen. Wenn die Verständigung nicht funktioniert, fängt sie an zu schreien.

Nie werde ich das weinende Häufchen Elend vergessen, in das sich meine Tochter verwandelt hat, als ich sie das erste Mal in den Bus gesetzt habe, der sie morgens in den Kindergarten bringt. Klingt nach einem fiesen Manöver, nach Abschiebung, war es aber gar nicht, wir hatten die besondere Einrichtung in der Eingewöhnung gemeinsam auf Herz und Nieren geprüft und für gut befunden.

Die Kleine hatte sich in dem Sonderschulkindergarten super eingelebt und wohlgefühlt, nur hatte ich sie bisher hingebracht und nicht ein ulkiger Fahrdienst. Unverständnis, Entsetzen, Tränen – die komplette Bandbreite negativer Emotionen in den Augen unserer Kleinen war schwer zu ertragen, weshalb ich zum Start in die Woche dann ebenfalls fröhlich geflennt habe. Fühlt sich unglaublich erleichternd an am Montagmorgen.

Babysitter über Ebay-Kleinanzeigen

Mittlerweile hat sie sich an die knorrig-schwäbischen Fahrer in der Provinz gewöhnt, bei denen selbst ich nur die Hälfte verstehe, weil der Dialekt scheinbar irgendwo am hinteren Ende des Gaumens gebildet wird und nur das Nötigste an Worten den Weg nach draußen findet.

Bei einem Kind mit besonderen Bedürfnissen ist der Anspruch an einen Babysitter höher als der Fernsehturm. Wir haben monatelang niemand Passenden gefunden und der Tipp des Pflegeberaters, eine Annonce bei Ebay-Kleinanzeigen zu schalten, klang im ersten Moment auch nicht sehr vertrauenswürdig.

Wunderheilung bisher ausgeblieben

Mittlerweile haben wir über den digitalen Kleinanzeigendienst aber eine bezaubernde Pädagogikstudentin gefunden, die uns regelmäßig entlastet, indem sie mit der Kleinen längere Spaziergänge und Spielplatztouren macht. Das Bild der Babysitterin hängt an der Kommunikationstafel in unserem Wohnzimmer neben den Fotos von Oma, Opa und Co. Die Tafel soll unserer Kleinen ihren Tagesablauf vermitteln, auf Augenhöhe. Auf das Bild der Babysitterin tippt sie häufig mit einem Strahlen in den Augen.

Im selben Maße, indem uns Vertrauen abverlangt wird, erfahren wir im Gegenzug ein interessantes Maß an Misstrauen. Zum Beispiel werden wir in regelmäßigen Abständen von einem Arzt begutachtet, der beurteilen muss, ob der Pflegegrad unserer Tochter noch aktuell oder eine Wunderheilung eingetreten ist.

Stand jetzt gibt es kein Medikament, das unseren Gendefekt lindern oder gar heilen würde. Bei jeder turnusmäßigen Prüfung überlege ich mir aufs Neue, ob ich der Pflegeversicherung vom achten Weltwunder erzählen soll, von einem kleinen Mädchen, das über Nacht neun Fremdsprachen gelernt hat und dabei auch noch rückwärts übers Wasser gehen kann. Nur um die Reaktion des medizinischen Dienstes zu testen.

Würde ich natürlich nie tun, auch wenn das eigene Vertrauen in den gesunden Menschenverstand längst verloren gegangen ist. Die derzeit schlimmste Vertrauensfrage hat ein Landratsamt gestellt, das in der Nähe von Stuttgart liegt. Nachdem wir an Pfingsten vor zwei Jahren die Diagnose unserer Tochter bekommen haben, hat das zuständige Landratsamt festgelegt, dass die Behinderung der Kleinen erst ab jenem Tag besteht, an dem die Behörde den Gendefekt offiziell bestätig hat.

Das Urvertrauen in die Bürokratie schwindet

Obwohl unser Kinderarzt schriftlich erklärt hat, dass ein Gendefekt und die damit einhergehende Behinderung logischerweise ab dem Tag der Geburt bestehen und es darüber hinaus ein entsprechendes Gerichtsurteil gibt, will das Landratsamt, das seit kurzem für uns zuständig ist, das Urteil seiner Vorgängerbehörde nicht zurücknehmen. Frei nach dem Motto: Was einmal entschieden wurde von einer deutschen Behörde, muss für alle Zeiten gelten. Meinem Urvertrauen in die Bürokratie ist diese Denke alles andere als zuträglich.

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Unser Autor ist Redakteur der Stuttgarter Zeitung. Er hat zwei Kinder – seine Tochter kam mit einem seltenen Gendefekt zur Welt.