Die Tochter unseres Autors kam mit einem Gendefekt zur Welt. Ein Medikament, das ihre Situation verbessern könnte, wird realistischer – und könnte doch zu spät kommen.

Eigene Kinder sind die größten Emotionsverstärker der Evolution. Wird man morgens zum Start in den Tag von der Tochter angeschrien, ist das für das zentrale Nervensystem belastender als eine Kombination aus Mathearbeit und Zahnarztbesuch.

 

Wird man dagegen abends vor dem Einschlafen zauberhaft angelächelt, in jenem Zwischenzustand zwischen wach und schlafend, dann ist – Achtung, jetzt wird es kitschig, ein Orchester mit sanften Streicherklängen setzt an dieser Stelle im Hintergrund ein – im Angesicht von bedingungsloser Liebe alles egal, was war und was noch kommen mag.

Ausgerechnet das Türöffner-Gen ist defekt

Was bei uns war: Unsere Tochter kam mit einem seltenen Gen-Defekt zur Welt, der ihr die Sprache geraubt hat. Erst entwickeln sich Kinder, die von dieser schlechten Laune der Natur betroffen sind, ganz normal. Zwischen dem sechsten Lebensmonat und dem zweiten Lebensjahr setzt dann eine Regression ein: Die Kinder verlieren bereits erworbene Fähigkeiten wie eben das Sprechen oder die Handfunktion.

Das liegt daran, dass bei den Betroffenen die Vernetzung der Synapsen gestört ist. Schuld daran ist eine Fehlfunktion des MeCP2-Gens, des sogenannten „Türöffner-Gens“. Es reguliert die Funktion von über 75 anderen Genen. Ist der Bauplan dieses Schlüssel-Gens defekt, sind zahlreiche Bereiche im Gehirn betroffen.

Unsere Tochter hat mit ihren sechs Jahren keine 20 Wörter mehr zur Verfügung. Außerdem bringt ihr Gen-Defekt eine Autismus-Spektrum-Störung mit sich. Auf ungewohnte Abläufe und Übergänge reagiert das Mädchen mit verzweifeltem Schreien.

Hoffnung auf Besserung ist eine Erwartungsemotion, die bei den eigenen Kindern eine ungeahnte Wucht entfalten kann. Die Medizin macht Fortschritte. Im vergangenen Jahr ließ ein Unternehmen mit einem Medikament gegen „unseren“ Gen-Defekt aufhorchen. Weil der Professor, der uns begleitet, voller Hoffnung war, waren wir das auch. Bis sich die Firma ohne Vorwarnung aus der Forschung zurückgezogen hat. Die Pharmaindustrie definiert Hoffnung eben anders: Sie hofft auf viel Geld.

Mehr vom unglaublichsten Lächeln

Eine andere Firma setzt in Großbritannien und Kanada derzeit auf ein Gen-Ersatzprogramm. Bei dieser Therapie werden dem Körper gesunde Gene zugeführt, um mutierte zu ersetzen. Die Herausforderungen liegen darin, eine Überdosierung auszuschließen, das „Ziel“, also die richtige Zelle, zu erreichen und den richtigen Zeitpunkt für die Therapie zu finden. Unser Professor fürchtet, dass wir das passende Zeitfenster schon verpasst haben könnten, indem die entscheidende Entwicklungsphase von Kindern stattfindet.

Im Roman „Die Anomalie“ von Hervé le Tellier heißt es, dass Hoffnung das schlimmste aller Übel ist, weil sie das Unglück der Menschen verlängert. Vielleicht muss das eigene Hoffen aber auch nur angepasst werden. Mich treibt die Hoffnung auf mehr vom unglaublichsten Lächeln der Welt an. Und dass anderen betroffenen Kindern eines Tages ihre verlorene Sprache zurückgegeben werden kann.

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Unser Autor ist Redakteur der Stuttgarter Zeitung. Er hat zwei Kinder – seine Tochter kam mit einem seltenen Gendefekt zur Welt.