Vieles mag anders sein dieses Jahr, aber auf eines ist Verlass: Kommt Weihnachten, kommt auch Wham!. Und Bing Crosby. Und Mariah Carey. Irgendwie tröstlich, findet unser Kolumnist.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Martin Gerstner (ges)

Stuttgart - Ein verschlafener Sonntagmorgen. Draußen Schneeregen, eine ausbleichende Ahnung von Winter mit Sekundär-Aromen nach Heizungsluft. Drinnen Frühstück mit Adventskerze – so viel Weihnachtstradition muss sein. Und dann geschieht es: aus dem dösig-melancholischen Familien-Miteinander löst sich das monotone Pluckern der Drum-Machine, über die sich die von Schmerz umflorte Stimme des zu früh verstorbenen Crooners George Michael legt. Sie wissen schon: „Last Christmas – I gave you...“

 

Die Frau in Rot, wahnwitzige Föhnfrisuren, Ski-Hütte und Tief-in-die-Augen-Blicke. Meine Generation erklärte dieses Lied schon vor vielen Jahren für unspielbar. Meine geschichtsvergessene Tochter aber hat eine Weihnachts-Playlist angelegt – und da sind sie alle: Bing Crosby, Mariah Carey, George Michael, Santa Claus, Jingle Bells, Big Band und Beat, am Ende noch „Stille Nacht“ mit schwedischer Posaune. Bei den Kindern bin ich mir nie sicher, ob sie das ernst meinen oder nur den Geschmack der Eltern ironisch aburteilen wollen. Aber es ist wie immer an Weihnachten: man macht sich über Krippe und Adventskitsch lustig, spürt aber tief drin eine beruhigende Aufgehobenheit in der Tradition.

Ich will nicht ausschließen, dass einige Radiosender das Lied „Last Christmas“ bereits an einem warmen Septembertag in ihre Rotation einspeisten, also zu dem Zeitpunkt, als in den Supermarktregalen die ersten Lebkuchen auftauchten. Bei uns zu Hause lief’s eher spät, was umso mehr auffiel, als es keine Weihnachtsmärkte gibt, wo der Hit in Endlosschleifen zur materiellen Wohlfahrt aller George-Michael-Erben beiträgt – falls es welche gibt.

Der Sohn hört lieber Deutschrap

Wir jedenfalls zucken an diesem Morgen belustigt zusammen, geben unserem Überdruss pflichtgemäß Ausdruck und summen dann leise mit. Na ja zumindest die Frauen in der Familie – mein Sohn hört Deutschrap. Zwar kommt auch dieses Genre nicht an Weihnachten vorbei, verlangt dabei aber der deutschen Sprache alles ab. Zitieren wir kurz Kollegah: „Ich mach‘ Dope-Deals, die sich rentieren - Sitz‘ im Schlitten, lass mich ziehen von Rentieren.“ Etwa schlichter der Wiener Money Boy: „Es ist Christmas Time – Ich lad ein paar Bitches ein.“

Ich dagegen lasse mich nirgendwo hin ziehen, trinke einen Kaffee, sehe im Schein der Kerze einen Erzengel mit E-Gitarre und die drei Weisen aus dem Video von „The Power of Love“ von Franky goes to Hollywood. Dann sehe ich mich selbst im Schulchor bei der traditionellen Aufführung des Weihnachtsoratoriums. Ich verfalle in eine Art Kurzzeit-Winterschlaf, träumend, ich käme in einem weißen Anzug eine sogenannte Showtreppe hinunter, in der einen Hand nonchalant ein Mikrofon haltend und mit swingender Noblesse „I‘m dreaming of a white christmas“ singend. Tänzerinnen umschwärmen mich, Kunstschnee rieselt, bonbonfarbene Scheinwerfer verleihen mir Glanz. Als ich aufwache, ist es Zeit, die Spülmaschine einzuräumen.

Martin Gerstner begleitet die Schulkarrieren seiner beiden Kinder mit Interesse und Ehrfurcht. Ansonsten ist er seinen Kindern oft peinlich und erfüllt damit die vorgesehene Rolle als Vater.