Das Familienleben in den eigenen Wänden ist herausfordernd genug. Doch was tun, wenn plötzlich die Welt draußen mit viel Geschrei eindringt und schnelles Handeln erforderlich macht?

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

Stuttgart - Eine Frau schreit irgendwo im Haus schräg gegenüber. Ist sie Opfer? Gehen die Aggressionen von ihr aus? Das ist meinen Kindern und mir unklar, uns erschließt sich nicht mal, was da in welcher Sprache verhandelt wird. Klar ist uns nur die Bedrohlichkeit der Situation, sie erfordert unser Handeln.

 

Doch was tun? In das sanierte Gebäude sind mehr als zwanzig Parteien eingezogen, wir kennen niemanden der neuen Nachbarn. Sollen wir bei allen klingeln und fragen: „Entschuldigung, gibt es bei Ihnen aktuell einen Fall von häuslicher Gewalt?“ Nach kurzer Debatte entscheiden wir uns für ein diplomatisch aus dem Innenhof gerufenes Hilfsangebot. Zum Glück war jemand anderes nicht so zögerlich: Gerade als wir in die Puschen kommen, biegt ein Polizeiauto ums Eck.

Jeden dritten Tag tötet in Deutschland ein Mann seine (Ex)-Partnerin

Dieser Vorfall ereignete sich bereits im Sommer. An das vorfahrende Polizeiauto haben wir uns inzwischen gewöhnt, nicht an die Schreie – und das ist gut so. Beim Verdacht auf häusliche Gewalt ist die Aufmerksamkeit aller gefordert, vor allem wenn im Corona-Lockdown wie jetzt die Zahl der Übergriffe steigt, aber nicht nur dann. Zu trauriger Berühmtheit hatte es eine Vergewaltigung in den USA gebracht, bei dem das Opfer starb. Seine Hilferufe hatten die Anwohner einem der Fälle von häuslicher Gewalt in der Nachbarschaft zugeordnet – und wie üblich ignoriert.

Auch in Deutschland war Gewalt im häuslichen Bereich bis in die 1990er Jahre hinein eher ein privates Problem und wurde kaum gesetzlich sanktioniert. Das hat sich nicht geändert: Die Opfer sind fast immer weiblich. Rund ein Viertel aller Frauen im Alter von 16 bis 85 Jahren gibt an, schon einmal körperliche und/oder sexuelle Gewalt durch aktuelle oder frühere Beziehungspartner erfahren zu haben. Laut Zahlen des Bundesfamilienministeriums waren im Jahr 2018 mehr als achtzig Prozent der Opfer von häuslicher Gewalt Frauen. In Deutschland stirbt jeden dritten Tag eine Frau durch häusliche Gewalt, die Täter sind ihre (Ex-)Partner.

Ob das bevorstehende Fest der Liebe an diesen Zahlen etwas ändern wird? Zweifel daran sind berechtigt. Wer Hilfe braucht, findet bei der Hotline „Gewalt gegen Frauen“ unter der kostenlosen Telefonnummer 08000 116 016 rund um die Uhr ein offenes Ohr und in 17 Sprachen Informationen über Frauenhäuser sowie Beratungsstellen. In jedem Fall gilt, was uns einer der freundlichen Polizeibeamten mit auf den Weg gab: „Lieber einmal zu oft anrufen!“

Andrea Kachelrieß hat zwei Kinder, und das seit einigen Jahren. Gefühlt bleibt sie in Erziehungsfragen aber Anfängerin: Jeder Tag bringt neue Überraschungen. Bei der StZ betreut sie die Kinderliteratur.