Irgendwann wird den Kindern ein Urlaub bei den Großeltern oder auf einem Ponyhof im Allgäu zu dumm. Sie wollen die Welt entdecken – doch die Eltern haben das Reisen verlernt.

Stadtleben und Stadtkultur : Alexandra Kratz (atz)

In meinem alten Kinderzimmer bei meinen Eltern hängt er noch immer: ein riesiger Bilderrahmen mit einer Postkarten-Collage. Mit zwölf Jahren oder so fing ich an, mir von jedem Ausflug und Urlaub als Souvenir eine dieser mit schönen Fotos bedruckten kleinen Pappen mitzubringen. Die Motive und Formen sind so unterschiedlich wie die Orte, von denen sie stammen. Es gibt Postkarten mit kitschigen Sonnenuntergängen von Mittelmeerinseln, mit Mickey Mouse im Disneyland Paris, mit einer Szene aus einem Baseball-Spiel in Chicago. Die Liste ließe sich fortführen, ohne Zweifel: In jungen Jahren war ich viel in der Welt unterwegs.

Doch dann kam die Familie und dann auch noch Corona. Als die Kinder klein waren, haben wir Urlaub bei Oma und Opa gemacht. Das war komfortabel: Das Gepäck hielt sich in Grenzen ebenso wie die Reisezeit, und vor Ort waren sogar kostenlose Babysitter verfügbar. Wir schliefen unter meiner Postkarten-Collage – und ich träumte von fernen Ländern. Irgendwann hatten wir als Eltern aber doch mal wieder Lust auf was anderes und wagten uns ins Allgäu, auf einem Ponyhof in Wertach sind wir seit vier Jahren Stammgäste. Mittlerweile begrüßt uns der ein oder andere Einheimische, wenn wir morgens Brötchen oder nachmittags Eis holen, und sagt mit Blick auf unsere Töchter den unvermeidbaren Satz, den jedes Kind hasst: „Seid Ihr aber groß geworden.“

Schon allein das Packen ist grausam

Ich glaube, ich habe das Reisen inzwischen verlernt. Ich bin zu bequem geworden. Ich hasse das Packen, ich hasse die Angst, den Flug oder den Zug zu verpassen, will mich nicht mit dem Mietwagen in einer fremden Stadt verfahren. Früher, ja früher machte mir das alles nichts aus. Da konnte ich drüber lachen, wenn ich in die USA und mein Koffer nach Indien flog. Aber heute? Heute würde ich wahrscheinlich einen Nervenzusammenbruch erleiden.

Doch meine Kinder, die kommen nun in ein Alter, in dem sie die Welt entdecken wollen. Neulich sagte meine Tochter zu mir, dass es in ihrer Klasse niemanden gebe, der weniger Länder bereist habe als sie. Wir könnten doch wenigstens mal nach Straßburg fahren, schlug sie vor, das sei auch nicht weiter als bis zu den Großeltern. Zugegeben, sie hatte gut recherchiert. Aber Straßburg? Was soll ich in Straßburg? Schon meine Uroma wusste: „Es stehen doch überall nur Häuser.“ Und im Fall von Straßburg habe ich das sogar schon überprüft, das entsprechende Foto in meiner Postkarten-Collage beweist es...

Nein, im Grunde kann ich das Fernweh meiner Kinder verstehen. Wenn man ganz langsam erwachsen wird, dann wird die eigene Stadt schnell zu eng, dann will man die Welt entdecken, andere Länder und Kulturen kennenlernen, den eigenen Horizont erweitern und austesten, ob sich das stundenlange Vokabellernen irgendwie auszahlt. Darum versuchen wir demnächst etwas Neues: Wir fahren für ein Wochenende an den Bodensee! Klingt noch nicht wirklich aufregend? Okay, aber für die nächsten Ferien plane ich ein erstes richtiges Abenteuer: Wir beantragen Pässe in einem Stuttgarter Bürgerbüro. Nach alldem, was man so hört und liest, ist das wegen des Personalmangels eine echte Herausforderung, bei der man das stundenlange Warten, wie später zum Beispiel am Flughafen, schon einmal üben kann.

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Alexandra Kratz hat zwei Töchter, die sich der Pubertät annähern beziehungsweise diese bereits ausleben. Allzu oft erkennt sie sich dabei selbst in ihren eigenen Kindern wieder.