Die fünfjährige Tochter unseres Autors kam mit einem Gendefekt zur Welt. Sie kann nicht sprechen: Ein Protein verhindert, dass ihre Worte die richtige Abzweigung nehmen.

Stuttgart - Wenn unsere Traumtochter aus der Kita nach Hause kommt, ist sie ein Tsunami der Bedürfnisse. Sie will essen und fordert „Bot, Boot, Booot“, also Brote, und zwar jede Menge. Und sie will Peppa Wutz gucken.

 

Nachdem sie bis ins vergangene Jahr Angst vor dem Fernseher hatte, neigt sie nun zu einer etwas intensiveren Nutzung. Im vergangenen Dezember lagen meine Frau und ich gleichzeitig mit Corona flach. Um irgendwie durch den Tag zu kommen, haben wir die Kinder mit Hilfe diverser Endgeräte beschäftigt und unsere Tochter angefixt.

Geheimsprache, Laute und Schreie

Fast zwei Jahre lang war das unsere Horrorvorstellung. Unsere Tochter hat einen seltenen Gen-Defekt. Einer der Elternvereine, der uns durchs Leben begleitet, beschreibt das Syndrom unserer Tochter als eine Mischung aus Autismus, Parkinson, Zerebraler Lähmung, Epilepsie und Angststörungen. Wobei die betroffenen Menschlein nicht alle Symptome gleichermaßen haben müssen.

Die Wahrheit ist: Zwei Drittel unseres Alltags sind wunderschön. Wenn das kleine Wesen durch die Wohnung rennt, sich auf ihre Reit-Therapie oder ihre Kumpels in der Kita oder auf ihre Großeltern freut. Ein Drittel des Alltags ist intensiv, weil unsere Tochter nicht sprechen kann und ihre Bedürfnisse durch Laute und Schreie anders einfordert als andere Kinder. Ein Protein verhindert, dass ihre Worte die richtige Abzweigung nehmen.

Sehnsucht nach Watte

Wo unserer Tochter die Sprache fehlt, macht sie mich sprachsensibler. Auch fast zwei Jahre nach der Diagnose kriege ich den Satz „meine Tochter ist behindert“ nicht über meine Lippen. Stattdessen sage ich, dass sie eine Behinderung hat. Raul Krauthausen, ein Aktivist für Inklusion, findet das falsch. Behinderung sei ein Merkmal wie jedes andere auch: blond, groß, schlau. Da müsse man niemanden in Watte packen.

Wenn man morgens schon die ganze Kraft für den Tag verbraucht hat, um das willensstarke Mädchen davon abzuhalten, eine halbe Stunde vor Abfahrt des Kindergartenbusses in der Kälte ungeduldig die Straße hoch und hinunter zu tigern, sehne ich mich manchmal nach etwas mehr Watte. Nur um die Kleine eine Stunde später wie blöd zu vermissen.

Männergespräche beim Spaziergang

Führen wir das Leben einer sogenannten „Schattenfamilie“, einer Familie also, die auf ein besonderes Kind besonders achtgeben muss, wie es zum Beispiel die Autorin Jasmina Kuhnke beschreibt? Ganz so gefährdet ist unsere Tochter nicht. Ist unser Sohn eines der sogenannten Schattenkinder, weil er im Schatten einer Schwester mit Behinderung lebt, die manchmal mehr Aufmerksamkeit kriegt als er?

Den letztgenannten Begriff finde ich furchtbar. Damit unser Sohn nicht im Schatten seiner Schwester steht, versuchen meine Frau und ich mit ihm allein zu zweit Zeit zu verbringen. Manchmal ein ganzes Wochenende lang, manchmal muss der gemeinsame Spaziergang zur Schule für „Männergespräche“ reichen.

Diktatur im Auto

Wir sind uns sicher, dass seine besondere Schwester seinen Horizont erweitert, so wie sie unser Leben bereichert. Zumindest hat er meiner Frau und mir kürzlich erklärt, dass er uns beide zwar schon auch ganz okay finde, seine Schwester aber am meisten lieb habe. Noch so ein Spruch und der undankbare Kerl wird in ein Internat geschickt.

Das Leben von Eltern mit kleinen Kindern spielt sich ja gerne in so genannten Phasen ab. Bei uns gibt es Phasen, in denen das kleine Mädchen besonders auf ihren Bruder fixiert ist und ihn schubst und anschreit. Im Auto zum Beispiel, wenn er es wagt, seine Sitzposition zu verändern, um aus dem Fenster zu gucken oder sich nach vorne zu beugen. Wenn nicht alles seine gewohnte Ordnung hat, gibt es Ärger.

Kontemplative Meditation

Oder wenn die Kleine einen langen Tag hatte und nach der Kita einfach nicht mehr kann. Wenn wir dann den Fernseher ausschalten wollen, tragen wir an schlechten Tagen einen Kampf aus, der in Geschrei ausartet. Geschrei, das man nicht immer gut aushalten kann.

Zum Glück hat unsere Tochter neben Peppa Wutz noch eine zweite Fernsehleidenschaft: Fußball. Der beruhigt sie scheinbar. Vermutlich, weil sie meinen Sohn und mich an Samstagnachmittagen beobachtet und gedacht hat, diesen Zustand der kontemplativen Meditation möchte sie auch erreichen.

Träume vom Urlaub auf den Komoren

Will unsere Traumtochter Fußball gucken, verlangt sie nach „Biesa“, warum auch immer. In einem anderen Kontext kann Biesa auch Strand oder Schwimmbad heißen. Wir haben aufgehört zu versuchen, ihre Geheimsprache linguistisch ableiten zu wollen. Also haben meine Tochter und ich zum Feierabend kürzlich zusammen ein Spiel des Afrika Cups geschaut, Komoren gegen Gabun.

Zuvor wusste ich gar nicht, wer oder was die Komoren sind und dass sie nordöstlich von Madagaskar liegen. Seitdem träume ich von Familienurlaub auf den Komoren, am Strand, unter Palmen. In unserm Fall „so inklusiv wie möglich“ statt „all inclusive“. Unsere Tochter erweitert unseren Horizont eben auf viele verschiedene Arten.

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Hintergrund
Unser Autor ist Redakteur der Stuttgarter Zeitung und Nachrichten. Er hat zwei Kinder – seine Tochter kam mit einem seltenen Gendefekt zur Welt.

Autismus
Wer Einblicke in eine Familienwelt sucht mit einem Kind mit besonderen Bedürfnissen, ist bei Daniel Anibal Bröckerhoff richtig. Der Journalist und Moderator hält seinen Alltag mit einem Kind mit Autismus und einem mit Muskelschwäche bei Instagram in Videos und Bildern fest.