Kolumne Fragen Sie Dr. Ludwig Warum sollten wir im Büro besser mal weghören?

In Großraumbüros gibt es oft zu viel irrelevante Information. Foto: dpa/Michael Kappeler

Menschen nehmen seit jeher vor allem das wahr, was sie auch wahrnehmen wollen. Das macht unser Zusammenleben manchmal ganz schön kompliziert. Doch die selektive Wahrnehmung hat auch ihre Vorteile.

Wissen/Gesundheit: Werner Ludwig (lud)

Das menschliche Hörvermögen lässt mit dem Alter spürbar nach. Doch wer öfter mit betagten Personen zu tun hat, weiß, dass diese manchmal trotz Schwerhörigkeit erstaunlich gut mitbekommen, was gesagt wird – insbesondere, wenn es nicht für ihre Ohren bestimmt ist. „Ihr braucht gar nicht so zu gucken, ich weiß, dass ihr gerade über mein Testament gesprochen habt“, heißt es dann etwa. Bei anderen Themen ist es genau umgekehrt: „Oma, so viel Kuchen ist gar nicht gut für deinen Diabetes.“ – „Was hast du gesagt? Ich höre doch so schlecht!“

 

Das ist nur eines von vielen Beispielen für die selektive Wahrnehmung, die uns Menschen zu eigen ist. Die moderne Hirn- und Bewusstseinsforschung geht noch weiter und postuliert, dass es so etwas wie Objektivität überhaupt nicht geben kann, weil sich jeder vor allem die Teile der Wirklichkeit herauspickt, die zu seinem bisherigen Weltbild und zu seinen Erwartungen passen. Der Rest wird ausgeblendet, um unbequeme Widersprüche – sogenannte kognitive Dissonanzen – zu vermeiden.

Gleiche Fakten – unterschiedliche Schlüsse

In Experimenten lässt sich zeigen, dass Probanden, denen die exakt gleichen Fakten präsentiert werden, daraus völlig unterschiedliche Schlüsse ziehen können. Unser Zusammenleben wird dadurch nicht unbedingt einfacher – etwa wenn es darum geht, gemeinsam Maßnahmen gegen eine Pandemie oder die Klimakrise zu ergreifen.

Andererseits würde uns ganz schnell der Kopf rauchen, wenn unser Hirn unter den Unmengen an Informationen, die auf uns einströmen, keine Auswahl treffen würde. Im Zeitalter der ungebremsten Informationsexplosion ist selektive Wahrnehmung sogar überlebenswichtig. Beispiel Großraumbüro. Studien belegen, dass das Wohlbefinden und damit auch die Produktivität der Beschäftigten leidet, wenn diese ständig bei Kollegengesprächen oder Telefonaten mithören müssen, die sie überhaupt nicht interessieren. Manche schaffen es allein durch mentales Training, solche irrelevanten Informationen auszublenden. Andere setzen dabei lieber auf technische Hilfsmittel und kaufen sich für viel Geld einen Noise-Cancelling-Kopfhörer, der unerwünschten Schall abhalten soll.

Trickreiche Phasenverschiebung

Solche Kopfhörer verfügen über Mikrofone, welche die äußeren Störgeräusche aufnehmen. Eine Elektronik analysiert diesen Schall und erzeugt passende Gegenschallwellen, die dem Nutzsignal hinzugefügt werden – also etwa der Musik oder der Videokonferenz, der man gerade lauscht. Schall- und Gegenschallwellen werden dann so überlagert, dass sich Wellentäler und Wellenberge gegenseitig auslöschen. Physikalisch handelt es sich um eine Phasenverschiebung. Das eigentliche Nutzsignal bleibt davon weitgehend unberührt und wird ohne störende Fremdgeräusche besser hörbar.

Die bisherigen Noise-Cancelling-Kopfhörer blenden Außengeräusche aber sehr unspezifisch aus – unabhängig davon, ob der nette Kollege vom Nachbartisch fragt, ob man mit ihm mal ein Bier trinken gehen will, oder ob eine Führungskraft schwer verdauliche Worthülsen aus dem letzten, sündhaft teuren Managementseminar von sich gibt.

Cancel-Culture-Kopfhörer für Sprachsensible

Die Zukunft gehört der individualisierten selektiven Geräuschunterdrückung. Wer nicht mehr ertragen kann, was Chefin oder Chef im Lauf des Tages von sich geben, kauft sich dann einen Boss-Cancelling-Kopfhörer. Für besonders sprachsensible Menschen empfiehlt sich ein Cancel-Culture-Kopfhörer, der mittels Künstlicher Intelligenz politisch inkorrekte Äußerungen erkennt und eliminiert. In manchen Soziotopen kann das allerdings dazu führen, dass die Verständlichkeit etwas leidet: „Du xxxxxxxx XXXXXX! Was guckst du so xxxxxxxx? Ich xxx dir gleich einen XXXX auf die XXXXX!“

In diesen Fällen empfiehlt sich das gegen Aufpreis erhältliche Zusatzmodul, das anstößige Begriffe und Formulierungen durch unverfängliche ersetzt: „Du bewundernswerte Mitperson! Was guckst du so verwirrt? Ich bring dir gleich einen Drink auf die Terrasse.“ Am Ende sind alle bösen Worte weg. Friede, Freude, Eierkuchen.

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