Für viele Eltern hat das Wort Anpfiff eine ziemlich unheilvolle Bedeutung. Unser Kolumnist Martin Gerstner zählt zum Kreis der Geprüften, die am Wochenende ihren Nachwuchs zum Fußball begleiten.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Martin Gerstner (ges)

Stuttgart - Samstagmorgen auf einem Sportgelände am Rande der Stadt. In der Umkleidekabine riecht es nach altem und neuem Schweiß. Es wird gerempelt, gepufft, gekichert und gequasselt. Die Eltern stehen gähnend daneben, sammeln Klamotten und Ohrschmuck ein und sinnieren über die Frage, warum sie das tun, was sie nie tun wollten: in ihrer knappen Freizeit die sportive Selbsterfahrung der Kinder beaufsichtigen.

 

Natürlich, Sport ist wichtig. Jungs und Mädchen müssen sich austoben, mit anderen messen, koordinativ entwickeln. Sport macht schlau, hilft gegen Blähungen und fördert das innere wie äußere Gleichgewicht. Also gut. Das Angebot ist ja groß. Denkt man – und erinnert sich kurze Zeit später an jenes Diktum irgendeines britischen Fußballprofis („. . . am Ende gewinnen die Deutschen“). Sport für Kinder nämlich heißt: man ermittelt ihre jeweiligen Talente, und am Ende spielen alle Fußball.

Nun ja, es mag noch ein paar Randsportarten wie Reiten, Handball oder Minigolf geben. Der Fußball aber, befeuert durch ausufernde Berichterstattung in allen Medien, kann sich vor dem Andrang der Kinder kaum retten. Elfjährige verbringen die Zeit vor dem Training damit, ihre Frisuren so zurechtzumeißeln, dass sie jenen Bundesligastars ähnlich sehen, die monatlich den Gegenwert eines Kleinwagens beim Friseur hinterlassen – wenn sie wüssten, was ein Kleinwagen ist. Jungs adaptieren die Körpersprache der Stars, recken nach kleineren Fouls ahnungslos die Hände, fordern das Zuspiel, um dann selbst umso eigensinniger aufs Tor zu marschieren, jubeln theatralisch und klatschen sich mit ostentativer Coolness ab. Was daran den Gleichgewichtssinn und die Verdauung fördert, muss noch erforscht werden.

Gut daran ist, dass die Vereine den Eltern wichtige Erziehungsarbeit abnehmen: nämlich ihren Kindern den Zusammenhang zwischen Leistung und Selektion zu erklären. Achtjährige werden, wenn es hakt, in die zweite Mannschaft abkommandiert, wer über die eigenen Beine stolpert, sinkt in der internen Hierarchie. Die Trainer, die ihre Freizeit dem Training opfern, brauchen dafür Autorität und psychologisches Raffinement von der Sorte, die jedem Dirigenten, Ausbildungsoffizier und Yogalehrer Ehre machte. Anders die Eltern: umgekehrt proportional zur Ballbeherrschung der Kinder geht ihre Selbstbeherrschung verloren. Ein echtes oder gesehenes Foul auf dem Platz kann zur Massenschlägerei bei den Erwachsenen führen. Optimisten finden, dass gerade dabei die integrative Funktion des Vereinssports voll zum Tragen kommt.

Doch vor dem inneren Auge mancher Eltern läuft dann ein anderer, irgendwie friedlicher Film ab. Sie joggen mit ihren Kindern über die Wiese, atmen beim Yoga im Gleichklang, machen sich beim Radfahren spielerisch die Führung streitig oder schwimmen ruhig ihre Bahnen. Kein Gebrüll von Abspielen oder Abseits, frische Luft füllt die Lungen . . . und entpuppt sich im nächsten Moment als Dunst aus der Umkleidekabine. Es hilft nichts. Tief durchatmen, Unterhosen einsammeln. In fünf Minuten ist Anpfiff.