Kleider machen Leute. Doch wenn es um abgelegte Kinderkleider geht, tun sich da manchmal auch Abgründe auf.
Stuttgart - Am Anfang ist es einfach. Im Krankenhaus dominiert die Einheitswäsche. Alle Säuglinge sehen gleich aus, und die Eltern sind ohnehin froh, wenn nach dem Wickeln oben noch ein Kopf und unten zwei Füße rausschauen. Doch spätestens zu Hause beim Blick in den Babykleiderschrank (oh ja, der ist voll), explodieren die modischen Déjà-vus und fügen sich zu einer synaptischen Höllenfahrt durch alle Modesünden der vergangenen vierzig Jahre. Das ist halt so. Wer als Letztes in seinem sozialen Umfeld Kinder kriegt, wird mit den Textilien aller Vorfahren seit dem Schah-Besuch beglückt, freiwillig oder nicht. Schäden sind absehbar.
Mode als Ausdruck der eigenen Individualität im Spiegel des Zeitgeistes macht vor Babys nicht halt. Die können sich auch gar nicht wehren. Und die Eltern? Eigentlich auch nicht. Was Schwiegermutter, Schwester und Schwägerin seit Jahren und Jahrzehnten aufbewahren, muss jetzt endlich aufgetragen werden. So kommt es, dass der Zögling anfangs aussieht wie ein Waisenhausfindelkind aus den fünfziger Jahren. Seltsam uniformähnliche Flügelhemdchen – nur weiß ist zugelassen – steif, dick und unnachgiebig, pressen den Kleinen in Form. Erleichternde Zusatzausstattung wie Druckknöpfe oder Gummizüge waren damals noch nicht erfunden. Doch es kommt noch schlimmer.
Der Sohn macht alles mit
Es folgt ein buntes Modepotpourri. Der weiße Body mit den neongelben Streifen – Elho Freestyle 1983. Gestreifte Baumwoll-Boxershorts, die unter der Leiste enden – das trugen wir im ersten Griechenlandurlaub 1988. Jetzt die Jeanslatzhose mit der großen Tasche vorne – „Come on Eileen“. Ach, Dexys Midnight Runners. Die Hemden von Kajagoogoo, die Karottenjeans von David Bowie – unser Sohn hat alles mitgemacht. Die Familie freut sich.
Dem Kind ist das egal? Hoffentlich. Aber sicher sein kann man sich da nicht. Im Zuge seiner Bewusstseinswerdung ist absehbar, dass er sich irgendwann als Zeitreisender identifiziert. Neuerdings guckt er immer intensiver in den Spiegel, als wolle er hineinspringen und mit Michael Fox alias Marty McFly zurück ins Jahr 1985 düsen.
Schräger Sitz der Schiebermütze
Natürlich geht es auch anders. Immer wieder finden sich kleine Mädchen auf dem Spielplatz ein, die von ihren Müttern abgehalten werden, im Sand zu spielen, weil sie ihr weißes Kleid nicht dreckig machen dürfen. Zweijährige stürzen über ihre Bagger, weil der korrekte schräge Sitz ihrer Schiebermützen das Sichtfeld einschränkt. Neulich war der einjährige Nachbarsjunge zu Besuch bei uns. Er trug eine Röhrenjeans, die man beim Windelwechseln vermutlich mit der Verbandsschere aus dem Notfallkasten aufschneiden muss.
Letztlich muss man sich eingestehen, dass entgegen allem Gestaltungswillen der Erwachsenen zeitlose bequeme Freizeitkleidung das Kind am besten kleidet. Zum Beispiel ein Ballonseidentrainingsanzug. Nachdem man sich an die Optik gewöhnt hat, die dem Auftreten serbischer Kriegsverbrecher ähnelt, ist klar: der Kleine fühlt sich wohl. Und wem das peinlich ist, dem sei das Nordkosovo als Urlaubsort empfohlen. Berge, Seen – und alle sehen so aus.
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