Mit den Augen des Vaters: unser Kolumnist Dieter Fuchs hat am eigenen Kind erfahren, wie Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf und Michel aus Lönneberga die Welt ins Chaos stürzen können.

Seite Drei: Dieter Fuchs (fu)

Stuttgart - „Mein Vater ist ein Negerkönig. Irgendwann kommt er und holt mich, und dann werde ich eine Negerprinzessin. Hei hopp, was wird das für ein Leben!“ Zugegeben, beim Schreiben dieses Zitates spreizt sich die elektronische Feder ein wenig. Nicht nur das N-Wort, der ganze Berufswunsch von Pippi Langstrumpf ist 2013 etwa so zeitgemäß wie das Schweigegebot für Kinder am Mittagstisch oder arrangierte Ehen.

 

Familienministerin Kristina Schröder hat eine überraschende Debatte ausgelöst, als sie öffentlich bekannte, solche schlecht beleumdeten Begriffe ihrer Tochter nicht vorlesen zu wollen. Nicht wenige Autoren, bezeichnenderweise alles Männer, haben höhnisch entgegnet, was das denn nun wieder für ein Gendergequatsche sei. Solle man in Zukunft denn von einer Afroamerikanervorsitzenden vorlesen? Zweimal „Neger“ schreiben und schon fühlt man sich wie ein Rebell. Hei hopp, was war das für ein Leben, als man den Frauen noch auf die Ärsche und den Kindern ins Gesicht schlagen durfte!

Ernsthaften Anlass, über die alten Kinderbücher nachzudenken, gibt es hingegen tatsächlich. Gelegenheiten, alte Pippi- und Michel-Filme zu sehen, finden sich während der Feiertage genug. Und plötzlich sieht der noch halbfrische Vater diese Geschichten mit ganz anderen Augen. Er kann sich noch sehr gut daran erinnern, mit welcher Freude er die Allgewalt von Pippi Langstrumpf als Kind genossen hat und wie langweilig und ungerecht er Michels Vater Anton fand. Nun – heute liegen die Dinge anders.

Verständnis für den armen Vater von Michel aus Lönneberga

Sollte mich mein Sohn stundenlang in ein kaltes Klo sperren, sich morgens vor der Kita eine Suppenschüssel über den Kopf stülpen, im Netz ein Auto ersteigern oder mir mit einer Rattenfalle die Zehen zertrümmern – es wäre meinerseits eine stereotype Reaktion in Anton’scher Manier zu erwarten. Was für ein Satansbraten – was für ein Vorbild! Man sollte ihn wahrlich nach Amerika schicken!

Noch grundlegender muss Pippi verdammt werden. Sie belässt es ja nicht bei Streichen und ungeschickten, eskalierenden Hilfsmaßnahmen – sie verteidigt das Chaos. „Dank ihrer übernatürlichen Körperkräfte und anderer Umstände ist sie ganz unabhängig von allen Erwachsenen und lebt ihr Leben wie es ihr gefällt. Bei Zusammenstößen mit großen Leuten behält sie immer das letzte Wort“, schreibt Astrid Lindgren 1944. Sie legt auch das philosophische Fundament in der Pippi-Diskussion: „Bei Bertrand Russell lese ich, dass der vornehmliche und instinktive Drang in der Kindheit das Verlangen ist, erwachsen zu werden oder, besser gesagt, der Wille zur Macht, und dass sich das Kind in seiner Fantasie Vorstellungen hingibt, die den Willen zur Macht bedeuten.“ Unser Sohn belässt es nicht bei der Fantasie. Um seinen Willen durchzusetzen, wirft er sich auf den Boden und schlägt mit dem Kopf dagegen. Objekte der Begierde umklammert er mit all seiner Kraft. Man kann ihn damit vom Boden abheben. Sollte er auch noch übernatürliche Kräfte bekommen und Pippis Attitüde annehmen, würde ich auswandern – wie ihr Vater. Auf eine Insel. Schlagerkönig werden.