Wer kriegt was? Darüber wird in Familien leidenschaftlich gestritten. „Das ist sooooo ungerecht“, wird dann den Eltern entgegengeschleudert. Oder: „Alle haben das!“ Aber unser Kolumnist Christoph Schlegel weiß jetzt, was dem zu entgegnen wäre. Dank Corinna Harfouch.

Stuttgart - Einen Satz beherrschen Kinder recht früh. Kaum haben sie „Mama“ oder „Papa“ halbwegs verinnerlicht und können die Worte den jeweiligen Figuren zuordnen, kommt schon bald dieser Spruch aus dem Kindermund: „Das ist ungerecht.“ Wie liebe ich diesen Satz! „Das ist ungerecht.“ „Der darf an den Computer und ich nicht, das ist ungerecht!“ „Der kann aber auch schon Buchstaben, du nicht.“ „Trotzdem ist das ungerecht“. Nein, das ist normal. „Nein, das ist ungerecht.“ Ungerecht. Ein Leben voller Ungerechtigkeiten. Tobend sind sie schon vom Esstisch gerannt, weil der Bruder einen Keks mehr bekommen hat bzw. letzte Woche einen mehr bekommen hat bzw. beim Schulausflug zwei Schokoriegel dabei hatte und man selbst nicht: „Das ist sooooo ungerecht.“ Und dann Schreie, Tränen, Kreischen. Wenn man es nicht besser wüsste, man könnte den Eindruck haben, ich hätte klammheimlich einen Unrechtsstaat installiert und würde sozusagen als Vorstadt-Robespierre eine Schreckensherrschaft gegenüber den anwesenden Erben ausüben.

 

Dabei bemühe ich mich Tag für Tag um ein Höchstmaß an Gerechtigkeit. Wir standen schon am Küchentisch und haben Gummibärchen mit dem Fleischmesser zerteilt, nur um halbwegs so etwas wie Gerechtigkeit herzustellen, weil ja in der Tüte nur noch eine ungerade Anzahl an Bären rumlag. Gerade im Hinblick auf Verteilungsgerechtigkeit könnte ich mich jederzeit von den Linken vereinnahmen lassen. Hilft aber alles nichts. „Die hat aber am Sonntag ein Magnum bekommen, ich aber nicht, das ist ungerecht.“ „Du warst dafür auf dem Geburtstag von Paul.“ „Trotzdem, das ist sooooo ungerecht“. Und dann diese Inbrunst, dieser tiefe Schmerz, dieser Pathos, mit der diese Missstände vorgetragen werden. Es müssen Seelenqualen sein.

Ganz schlimm: der Vergleich mit den Schulkameraden

Die höhere Stufe der Ungerechtigkeit finden wir dann beim Vergleich mit den Klassenkameraden. Hier wählt das Kind gerne den Begriff „Alle anderen haben . . .“ Zum Beispiel in Verbindung mit Elektrogeräten: „Alle anderen haben ein iPhone“. Oder wenn es um das Pausenbrot geht: „Alle anderen haben immer Kinderpingus dabei.“ Oder auch bei Sportschuhen: „Alle anderen haben jetzt die rosafarbenen Nike-Fußballschuhe.“ Alle anderen haben, Betonung auf alle. „Wirklich alle?“, fragt man immer etwas ungläubig. „Ja, alle!“ Und dann denkt man zunächst: „Mein Gott, das arme Kind, hängt da in seinen Lumpen in der Klasse rum, hat schwarz-weiße Fußballschuhe, nagt am Schwarzbrot und wird gemobbt, dass sich die Balken biegen.“ Düster werden die Gedanken, der Vorwurf steht unausgesprochen im Raum: „Vater, du hast gefehlt! Dein Kind leidet – deinetwegen! Wegen deiner Unzulänglichkeit!“ Oder anders ausgedrückt: „Das ist soooo ungerecht.“

In dem wunderbaren Film „Rose“, in dem Corinna Harfouch eine Mutter spielt, die drei Söhne alleine großzieht, gibt es eine sehr schöne Szene. Als Rose ihren Jüngsten auf seinen Drogenkonsum anspricht, sagt dieser leicht genervt: „Mama, alle kiffen.“ Darauf sagt die Harfouch-Rose: „Ja, alle, die du kennst.“ Auf diese Antwort habe ich Jahre gewartet. Nicht alle. Nur alle, die du kennst . . .