Die deutsche Familie und der Sonntag, seit eh und je ein verstörendes Kapitel. Ebenso verstörend: die deutsche Beziehung zum Wald. Ganz arg wird’s, wenn beides zusammenkommt, hat unser Kolumnist Martin Gerstner beobachtet.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Martin Gerstner (ges)

Stuttgart - Der Wald war schon immer der Sehnsuchtsort der Deutschen, ein mythisches Refugium als Gegenbild zur zersetzenden Nervosität des Stadtlebens. Allerdings lockten auch dunkle Gefahren und Verführungen im Unterholz, denen nur entgehen konnte, wer auf geteerten Wegen blieb. Das tat die deutsche Familie über Jahrzehnte hinweg. Man marschierte ins Grüne, nahm in ordentlicher Haltung einen Imbiss aus belegten Broten und Limonade bzw. Bier zu sich und kehrte zum Auto zurück, das tags zuvor mit erotischer Hingabe gewaschen worden war. Der Vater trug seine Freizeit-Windjacke, die Mutter den Rucksack mit den Vesperbroten, die Kinder unbequeme und kratzende Stoffe, deren Aufgabe es war, den natürlichen Bewegungsdrang möglichst effizient zu behindern. Sie schlurften mit hängenden Schultern über den Weg, kickten Steine vor sich her und hörten teilnahmslos den Ausführungen ihrer Väter zu, die über die Charakteristika von Nadelbäumen unter Berücksichtigung der vorherrschenden Klimazone dozierten oder schlimmstenfalls Eichendorff zitierten („o Täler weit, o Höhen“).

 

Der Sonntagsspaziergang hatte in Deutschland immer etwas Sakramentales, für Außenstehende auch etwas Furchteinflößendes. Die Marschkolonnen in den Naherholungsgebieten würden, so glaubten viele Beobachter, wenn der Befehl käme, erneut nach Osten vordringen. Der Spaziergang, eigentlich ein Akt der Kontemplation, des geistreichen Geplauders oder wenigstens der Verdauungsförderung, wurde in Deutschland begradigt und verordentlicht, wie das Flussbett eines Kanals der Binnenschifffahrt.

Die Tiere haben hier nichts mehr zu sagen

Viele Traumata der deutschen Nachkriegsgenerationen sind auf den Zwang zum Sonntagsspaziergang zurückzuführen. Die Protestkultur mit ihren Sit-ins war auch ein Protest gegen den Zwang zum Spazierengehen, die Angst vor dem Waldsterben war die Angst, der Wald könnte sterben, bevor er seine Befreiung von den bürgerlichen Invasoren erlebte.

Und heute? Wer sonntags in den Naherholungswald vordringt, traut seinen Augen kaum. Es herrscht ein heilloses Durcheinander. Kinder laufen, springen, hüpfen durchs Unterholz, tragen neonfarbene Softshell-Jacken, die wie Leuchtfeuer aufblitzen. Eltern berechnen via GPS-Smartphone die Distanz zur nächsten Zerstreuungseinrichtung, bei der die Kinder barfuß über Kies und Sand laufen, ausgestopfte Tiere bestaunen, in Hochseilgärten klettern und Wildkräuterkosmetik herstellen. In Tourenrucksäcken haben sie wasserfeste Unterhosen, Müsliriegel und Spielekonsolen für den Notfall. Worte wie geil und krass zerschellen an den Nadelbäumen, die letzten Kleinnager haben den Wald längst verlassen oder sind domestiziert.

Der Wald hat es also nicht leicht mit der deutschen Familie. Es ist deshalb dringend geboten, ihn einfach mal mit Familienausflügen in Ruhe zu lassen. Er hat es verdient. Die Chancen aber stehen schlecht, denn wofür, so fragen sich die Großstadteltern, hat man Rucksack, Softshell-Jacken und Trekking-Kinderschuhe gekauft? Morgen werden sie wieder angezogen. Die Bäume zittern schon.