Unser Kolumnist Christoph Schlegel ist begeisterter Vater. Manchmal, aber nur manchmal gestattet er sich eine Tagträumerei vom Leben ohne Kinder. Dafür mit viel Zeit, in einer schicken Umgebung und ohne Minipizza.

Stuttgart - Wenn ich kinderlos wäre, würde ich in einem Loft wohnen. Ich würde morgens in Ruhe einen Espresso trinken und durch mein Loft-Fenster auf die Dächer der Mietshäuser blicken, in denen die ganzen Familien wohnen. Ich würde sanft lächeln, wenn der erste Morgenkrawall aufsteigt. Wenn ich kinderlos wäre, müsste ich nicht jeden Morgen ein paar renitente Schläfer wachrütteln und dafür sorgen, dass sie an ihren jeweiligen Bestimmungsort kommen. Ich würde auf meinem Citybike durch die Stadt fahren, würde den Gemüseverkäufer grüßen, den Straßenbahnen winken. Ich wäre immer ausgeschlafen, immer munter, immer hellwach.

 

Ich hätte auch Zeit, sehr viel Zeit. Ich würde dann Italienisch lernen, Spanisch, vielleicht auch Russisch. Ich würde Yoga machen, Tango oder Zumba. Ich wäre im Fitness-Studio, im Wald beim Joggen, ich würde Kampfsportarten ausprobieren, Jonglieren lernen oder Pantomime. Ich könnte 700-Seiten-Bücher in wenigen Tagen lesen. Ich müsste nie wieder Erbrochenes vom Parkett wischen, müsste nie wieder in städtischen Hallenbädern auf durchnässten Socken durch die Dusche stapfen und Shampoo-Flaschen einsammeln. Ich würde nur noch in Wellness-Oasen gehen, hätte flauschige Bademäntel an und würde in Style-Zeitschriften blättern.

Wenn ich kinderlos wäre, ...

Wenn ich kinderlos wäre, säße ich jeden Abend im Kino, im Theater oder im Konzert. Ach was, ich würde selber Bücher schreiben, dicke Bücher, ich würde Bilder malen, Skizzen entwerfen, Sonaten komponieren. Ich würde Peter Sloterdijk ins Deutsche übersetzen. Im September würde ich nach Patagonien reisen und im April in die Abruzzen. Ich müsste nie wieder in spanischen Kinderdiscos den Ententanz machen und mir Schminke ins Gesicht schmieren. Im Bahnabteil würden sich wieder Menschen zu mir setzen, richtige Erwachsene. Überhaupt würde ich wieder viel mehr mit Erwachsenen sprechen, über die EU-Erweiterung, über den Symbolismus oder Wittgenstein. Ich würde mir auch einen Bart wachsen lassen.

Wenn ich kinderlos wäre, müsste ich nicht jeden Samstag einkaufen gehen und mich mit Vorräten eindecken, als drohe der atomare Erstschlag. Statt kiloweise Nudeln, Salamipackungen und Joghurts würde ich mir nur Sprossen kaufen und Frischkäse und Dinkelbaguette. Überhaupt würde ich mehr Dinkel essen. Und auch Alpen-Tilsiter. Im Fernsehen könnte ich mir schon um 18 Uhr Dokumentationen auf Arte anschauen. Ich müsste nie wieder in Spielwarenläden nach Geburtstagsgeschenken suchen, würde mir nie wieder die Kniescheibe verdrehen, weil ich auf viel zu kleinen Stühlen einen Elternabend absitze. Ich müsste nie wieder nach einem Kita-Sommerfest die Bierbänke zusammenklappen, nie wieder Dr. Oetker-Zitronen-Muffins backen, würde nicht eine einzige Aufbackbrezel in den Ofen schieben. Minipizzas, Pommes, Nürnberger Würstchen würde ich aus meinem Gedächtnis tilgen. Für immer. Ich würde am Abend immer leise Lounge-Musik hören, würde in meinem Loft sitzen – und von Ferne hören, wie es kreischt: „Ich bin noch nicht müüüüüdee!!!“