Unsere Welt wird immer gleichgültiger, keiner interessiert sich mehr für den Nebenmenschen. Wohl dem, der regelmäßig Besuch von neugierigen fremden Kindern bekommt! Die StZ-Kolumnistin Verena Mayer ist dankbar.

Region: Verena Mayer (ena)

Stuttgart - Von den Chinesen kopieren lernen heißt lernen. Dabei ist nicht an den schnittigen S 8 von Build Your Dreams gedacht. Den haben wir ja schon in Form des schnittigen CLK von Mercedes. Auch nicht an das Städtchen Huizhou, an dessen imitierter Schönheit uns wir mit weniger Aufwand ergötzen können: einfach mal nach Hallstadt fahren. Wenn wir etwas von den Chinesen kopieren sollten, dann das Gesetz, mit dem sie einander Fürsorge angedeihen lassen. In China wurden Kinder und Enkel dazu verpflichtet, regelmäßig ihre Eltern und Großeltern zu besuchen und sich um sie zu kümmern. Nicht, dass sie verwahrlosen oder ihnen unbemerkt was Tragisches widerfährt.

 

Die Nachbarn, um die es hier geht, sind keine Chinesen, aber sie könnten welche sein. Musterchinesen sogar. Jedes, wirklich jedes Wochenende kommt das Kind mit seinem Kind, das zugleich Enkel ist, auf Besuch zu den Eltern, die zugleich Großeltern sind. Es kann schon sein, dass dies mit der gigantischen Rutsche zu tun hat, die in ihrem großartigen Garten steht, und mit der fantastischen Schaukel und dem bonfortionösen Sandkasten – und dem unglaublichen Planschbecken, dem märchenhaften Gartenhäuschen und dem röhrenden Plastiktraktor. Aber das ist nebensächlich.

Das Mustergültige an den regelmäßigen Besuchen der nachbarlichen Nachhut ist, dass sich dadurch auch das Sicherheitsempfinden der unmittelbaren Anrainer nachhaltig gesteigert hat. Das (Enkel-)Kind N. kümmert sich nicht nur um seine eigene Familie rührend.

N.: „Hallo!“

„Hallo.“

N.: „Was machst du?“

„ Nichts.“

N.: „Warum?“

„Weil ich es so will.“

N.: „Warum?“

„ Weil ich ausruhen möchte.“

N.: „Warum?“

„Weil ich ruhen schön finde.“

Irgendetwas scheint N. an der Kombination dieser Begriffe stets aufs Neue beunruhigend unschön zu finden. Mit geschickten Fangfragen versucht er deshalb stets aufs Neue dem Grund für den passiven Zustand auf den Grund zu gehen.

N.: „Hat dein Papa gesagt, dass du ruhen sollst?“

„Nein.“

N.: „Hat deine Mama gesagt, dass du nichts machen sollst?“

„Nein.“

N.: „Bist du krank?“

Zack! Das war’s dann mit dem Nichtstun im Liegestuhl. Jetzt ist jede Antwort falsch. Einem unehrlichen „Ja“ folgt ein beeindruckend alarmierendes Sirenengeheul aus der Kinderkehle und kurz darauf erscheint ein mit Arztköfferchen ausstaffierter N. am Gartenzaun „Wo tut dir was weh?“ Auf ein ehrliches „Nein“ hingegen, folgt die ultimative K.-o.-Frage: „Hast du ein Eis für mich?“

Solange die Nachbarn den kleinen N. haben, kann nichts passieren. Kein unmittelbarer Anrainer kann ruhen, keiner kann verwahrlosen. Spätestens wenn am Wochenende das Eis fehlt, würde auffallen, dass nebenan etwas nicht stimmt, ganz sicher. Auf N. ist Verlass.