Wer braucht noch Fotoalben? Dank What’s-App und Facetime bleibt man doch immer in Verbindung mit kleinen Nichten und Neffen. StZ-Kolumnistin Julia Schröder findet das herrlich.

Stuttgart - Früher verbreiteten die alten Tanten Angst und Schrecken im Bekanntenkreis, wenn sie ihren Geldbeutel aufklappten, die Klarsichthüllenabteilung herausschnellen ließen und jeden, der bei drei nicht dringende Abhaltungen vorgeschützt hatte, zur Betrachtung der jüngsten Pixiefotos niedlicher Nichten und Neffen nötigten. Heute sind die Tanten vielleicht nicht jünger, fühlen sich dank mobiler Endgeräte aber so. Und haben, dank Smartphone und Tablet, noch ganz andere Möglichkeiten, ihre Umgebung am unwiderstehlichen Reiz des jüngsten Sprosses am Familienstammbaum teilhaben zu lassen.

 

„Lustig, die Sonnenbrille, oder? Warte, ich zeig dir noch das Video, wo er . . . ich muss das bloß erst mal finden, ach hier: ,immer Puzzleteile‘, das sagt er, weil er so gern puzzelt, süß, oder? Noch keine zweieinhalb, und er singt schon so schön . . .“ So geht das stundenlang mit wachsender Begeisterung. Bei der Tante, nicht unbedingt beim Publikum. Allein die Zahl der zuweilen gar nicht so professionellen Schnappschüsse und Kurzfilmchen aus dem Genre Windelporn, die dank What’s-App mitgeteilt und dank Youtube in die Welt hinausgeblasen werden, übertrifft laut Expertenschätzung die Anzahl der von US-Geheimdiensten ausspionierten europäischen E-Mails um den Faktor zehneinhalb. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen . . .

Nein, im Ernst, in Zeiten von Online-Netzwerken und anderen digitalen Teilhabe-Plattformen gilt das Sprichwort, geteilte Freude sei doppelte Freude, nur mehr bedingt. Aber die Segnungen von Facebook, Linkedin, Pinterest, Tumblr und ihresgleichen werden noch übertroffen von denen der digitalen Video-Telefonie. Nicht nur die klassische Fernbeziehung profitiert ja ungemein von Skype und Facetime, sondern auch die Bindung zum Patenkind.

So kann die Tante am Samstagabend den frisch gebadeten Neffen im neuen Schlafanzug bewundern und ihm am Sonntagmorgen dabei zuschauen, wie er Leberwurstbrote vertilgt. Sie empfindet Verzückung, wenn das himmlische Kind sein niedliches Schnütchen schürzt, um ein Küsschen zu übermitteln (auch wenn das Schnütchen mit wachsender Nähe zur Kamera zunehmend monsterkarpfenartige Bedrohlichkeit entwickelt), sie rennt bereitwillig, das Mobiltelefon vor sich her wedelnd, dem verstörten Haustier hinterher, sobald der Kleine den Wunsch artikuliert, er wolle jetzt mal die „Maukatze“ sehen, und schaut minutenlang klaglos in völlig menschenleere Räume, wenn es dem Zwerg gefällt, den Bildschirm auf die Seite zu drehen. Auch das plötzliche Ende der Verbindung, weil er sich dran erinnert hat, wie man über den „Beenden“-Button wischt, entlockt ihr keine Beschwerde.

Ein vernünftiges Gespräch mit den erwachsenen Beteiligten dieser Telekommunikation, in vollständigen Sätzen gar, ist natürlich nicht möglich. Aber man kann nicht alles haben. In Wahrheit gibt es ja auch gar nicht so viel zu erzählen. Also wird sie auch das nächste Mal wieder gerührt „Annehmen“ wählen, um lauter Kinderkram in Bild und Ton erleben zu dürfen. Ich freu mich schon drauf.