Wenn der Schnee fällt, glüht das Familienleben. Nur die Igel können schlafen. Alle anderen dampfen in ihren vielschichtigen Klamotten. Unser Kolumnist Martin Gerstner hat sogar seinen Kopf rauchen lassen.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Martin Gerstner (ges)

Stuttgart - Morgens: Unterhose, lange Unterhose, Hose, Unterhemd, langes Unterhemd, Pulli, dicke Socken, Jacke, Handschuhe, Stiefel, Schal, Mütze. Abends – in umgekehrter Reihenfolge: Mütze, Schal, Stiefel, Handschuhe, Jacke, dicke Socken usw. Dieses Ritual der Be- und Entkleidung unter maximalem Zeitdruck (Schule!) ist die Signatur des Winters im Leben der Familie. Geschrieben ist sie mit roter Tinte. Die Nasen der Kinder leuchten rot – eine sinnvolle Einrichtung der Natur, weil es die Verkehrssicherheit in der dunklen Jahreszeit erhöht. Rot glühen auch die Backöfen, in denen sich alljährlich die faszinierende Transformation von Teig zu Beton vollzieht.

 

Wobei: das mit der dunklen Jahreszeit ist Unsinn. Der Mensch folgt ja spätestens mit seiner eigenen Geburt dem Drang zum Licht und lässt davon auch im Winter nicht ab. Frühe Höhlenzeichnungen deuten darauf hin, dass bereits der Australopithecus mit Kerzen hantierte, sie aber nicht entzünden konnte, weil es an Streichhölzern fehlte. Mit dem aufrechten Gang war es möglich, Weihnachtsmärkte zu gründen, weil die Menschen über die Verkaufsstände blicken konnten. Sie sahen dann Kerzen: Stabkerzen, Spitzkerzen, Stumpenkerzen, Kugelkerzen, Lackkerzen, Tulpenkerzen, Duftkerzen und nicht zuletzt LED-Kerzen mit Batterie. Warum kein Baumarkt Kerzen anbietet, die bei der Berührung mit Kinderhänden einen Alarm auslösen, ist unklar. Schätzungen, deren Quelle wir vergessen haben, gehen davon aus, dass in der Adventszeit mehr als 100 Millionen Kerzen und andere entzündliche Lichtquellen in Europa leuchten. Dazu kommen elektrische Rentiere und die üblichen Wohnungsbrände. Im Winter ist es in Deutschland also heller als im Sommer.

Dank dieser gleißenden Helligkeit können Familien die besinnlichen Tage mit zügelloser Aktivität verbringen. Man bewirft sich mit Schneebällen und lacht den Schmerz auf menschlicher Haut platzender Eiskristalle weg. Man bucht Urlaubsreisen, für die schon vor der ersten Berührung eines Schlittens mit Schnee das Konto in den roten (!) Bereich getrieben wird. Alle Hügel sind bevölkert von Kindern und Schlitten, die getrennt voneinander durch den Schnee kullern. Untermalt wird das Ganze vom allgegenwärtigen Kreischen der Rauchmelder.

Das alles macht für viele Eltern den Winterschlaf zu einer begehrenswerten Option. Sie denken mit Neid an die Igel und Kleinnager, die in den Gärten vor sich hindösen, sofern sie nicht von Schneebällen getroffen oder von Schlittenkufen zerteilt werden. Diese Tiere können Blutdruck und Körpertemperatur auf nahe null senken, um Energie zu sparen. Der Blutdruck von Eltern steigt dagegen im Winter signifikant an, was durch die überhitzten Innenräume verschärft wird. Leider war in den Koalitionsgesprächen die Einführung des Winterschlafs kein Thema.

So wird Deutschland also weiter qualmen und dampfen. Dieser Dampf trägt stark zur allgemeinen Klimaerwärmung bei. Das ist ein gutes Zeichen, denn damit entfällt in rund 234 Jahren der Zwang zur Winterkleidung. Bis dahin müssen wir noch durchhalten.