Kolumne Mensch, Mutter Durch die rosarote Brille

Als sie erfährt, dass ihre Tochter recht rabiat durchs Leben geht, ist unsere Kolumnistin erst mal stolz auf ihr „starkes Mädchen“. Doch dann fängt sie an, über Geschlechterklischees nachzudenken und stellt fest: Mit der Gleichbehandlung von Tochter und Sohn klappt es nicht ganz so gut wie gedacht.
Stuttgart - Kürzlich hatte ich das jährliche Entwicklungsgespräch in der Kita. Es ging um meine Tochter und darum, wie sie sich eben so entwickelt. Die Kurzversion: Alles ist wunderbar und altersgemäß. Sogar, dass sie recht rabiat ist, schon mal andere Kinder schubst oder lautstark anpöbelt, wenn sie etwas haben will, ist (noch) nicht besorgniserregend. Meine Tochter ist zwei Jahre alt. Es ist die Trotz- und Selbstfindungsphase. „The Terrible Two“ nennen die Engländer das. Und natürlich waren die Erzieherin und ich uns sehr einig, dass man da liebevolle, aber auch sehr klare Grenzen setzen müsse.
Einerseits. Andererseits fand ich es insgeheim schon auch ein bisschen gut, dass das Mädchen sich durchsetzen kann und nichts gefallen lässt. Besser so, als anders herum, dachte ich. Aber dann kam mir mein Sohn in den Sinn, der mit zwei Jahren ein ziemlich zurückhaltendes Kind war (unvergessen zum Beispiel die Szene auf dem Spielplatz, als er sich von seiner Sandkastenfreundin erst klaglos die Schaufel wegnehmen und sie sich dann über den Kopf ziehen ließ). Und dann musste ich feststellen, dass ich auch das ganz gut gefunden hatte: Dass der Junge eben kein Krippenschläger war.
Der sanfte Bub
Das starke Mädchen und der sanfte Bub – man muss kein Psychologe sein, um zu erkennen: Ich freue mich über das Verhalten meiner Kinder offenbar immer dann, wenn es das Gegenteil von dem ist, was das Klischee von ihrem Geschlecht verlangt. Vielleicht, weil das sehr viel besser in mein genderbewegtes Weltbild passt.
Über meinen manchmal etwas übereifrigen (wir spielen, dass die Prinzessin Kasperle vor dem Krokodil rettet), manchmal ziemlich erfolglosen(„Iiiiiiiiih, ein rosa Mädchenbecher!“) Kampf gegen die Geschlechterklischees, habe ich in dieser Kolumne schon mal ausführlich geschrieben.
Geschlechtergetrennte Duschgels
Deshalb nur so viel: Ich glaube durchaus, dass es angelegte Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen gibt, die sich zum Beispiel in Interessen äußern. Aber ich glaube eben auch, dass Rollenbilder über Erziehung transportiert werden. Und dass Zuschreibungen und Erwartungshaltungen wie „brav“ und „kooperativ“ beziehungsweise „frech“ und „durchsetzungsstark“ Einfluss auf das Verhalten von Mädchen und Jungen haben und auf das der Frauen und Männer, zu denen sie werden. (Ich selbst zum Beispiel ringe jeden Tag mit dem Anspruch der perfekten Hausfrau und Mutter, der mir offenbar irgendwann mal mit auf den Weg gegeben wurde.)
Deshalb ist es mir eigentlich wichtig, dass ich meine Kinder möglichst gleich behandele. Sie eben nicht durch die rosarote oder hellblaue Brille sehe – auch wenn die Kinderbekleidungs- und -spielzeugindustrie derzeit alles tut, um mir das Leben dabei schwer zu machen (ich sag nur geschlechtergetrennte Duschgels und Osterhasen). Allerdings werde ich da ganz offensichtlich meinem eigenen Anspruch nicht gerecht. Denn dass ich es bei meiner Tochter okay finde, wenn sie rabiat durchs Leben geht, bei meinem Sohn aber Duldsamkeit fördere, hat dann ja auch nichts mehr mit Gleichbehandlung zu tun. Im Gegenteil.
Mit dem Puppenwagen über jedes Hindernis
Glücklicherweise gleichen meine Kinder es meistens wieder aus, wenn ihre Mutter im Wahn, alles richtig machen zu wollen, mal wieder übers Ziel hinaus schießt. Zum Beispiel spielt der sanfte Sohn mittlerweile am liebsten Fußball, tut eigentlich nichts anderes mehr, und kann sich dabei recht gut und körperbetont durchsetzten – wobei er zuhause im Spiel dann doch wieder seiner kleinen Schwester nachgibt. Die wiederum schiebt trotz aller Autos und Ritterburgen um sie herum am liebsten den Kinderwagen mit der Puppe drin durchs Zimmer. Wobei sie energisch jedes Hindernis über den Haufen fährt, das ihren Weg kreuzt. Manches ist eben nicht ganz so schwarz und weiß oder vielmehr hellblau und rosa wie gedacht.
Lesen Sie hier mehr aus der Kolumne „Mensch, Mutter“.
Die Autorin Lisa Welzhofer ist Mutter zweier Kinder und lebt in Stuttgart. In ihrer Kolumne macht sie sich regelmäßig Gedanken übers Elternsein, über Kinder, Kessel und mehr. Sie schreibt im Wechsel mit ihrem Kollegen Michael Setzer, der als „Kindskopf“ von seinem Leben zwischen Metal-Musik und Vatersein erzählt.
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